18. Dezember 2015

Tu dors Nicole

Bon retour.

Die Dinge waren auch schon einfacher – das merken auch die Charaktere in Stéphane Lafleurs Tu dors Nicole. Egal ob es um Minigolf, Babysitten oder das erste Auto geht. “Everything’s under control”, behauptet Hauptfigur Nicole (bezaubernd: Julianne Côté) da anfangs zwar, als ihre urlaubenden Eltern telefonisch nach dem rechten sehen. Wie sich zeigt, ist jedoch wenig in Nicoles Leben unter Kontrolle. Vielmehr befindet sich die junge Frau plan- und orientierungslos im Leerlauf. Was Lafleurs Film – nicht zuletzt deswegen, weil er in Schwarzweiß gedreht wurde – wie eine frankokanadisches Prequel zu Noah Baumbachs brillantem Frances Ha wirken lässt. Denn zwischen dessen Protagonistin und der von Tu dors Nicole existieren einige Parallelen.

Die Geschichte spielt während der Sommerferien. Nicoles Eltern sind verreist und ihre beste Freundin Véronique (Catherine St-Laurent) soll ihr einige Tage in dem leerstehenden Haus Gesellschaft leisten. Bis plötzlich Nicoles großer Bruder Rémi (Marc-André Grondin) mit seiner Band im Wohnzimmer steht, um dort ihr Album aufzunehmen. Im Gepäck dabei – mal wieder – einen neuen Schlagzeuger: den ruhigen JF (Francis La Haye). Während sich Nicole und Véronique durch die warmen Tage hangeln, gilt es zugleich den Avancen des jungen Martin (Godefroy Reding) aus dem Weg zu gehen, den Nicole früher als Babysitterin beaufsichtigte. Obendrein kommt dann noch hinzu, dass Nicole seit längerer Zeit nachts nicht mehr richtig schlafen kann.

Ähnlich wie Greta Gerwig in Frances Ha wirkt Nicole etwas verloren. Der Ex-Freund, einst ein Kiffer, ist nun verlobt. Véronique wiederum hat es in eine eigene kleine Wohnung geschafft und geht einer Arbeit nach. Nicole selbst lebt in den Tag hinein und arbeitet ein paar Stunden in einem Second Hand Shop, dessen Angestellte zum Großteil Menschen mit Handicap sind. Dort steckt sie hin und wieder Kleidungsstücke ein, die sie dann an Véronique weitergibt. Ein Lächeln zaubert derzeit nur ihre neu eingetroffene Kreditkarte auf ihre Lippen. Mit ihr buchen die Mädchen später auch eine Reise nach Island. Was sie in Island machen wollen, fragt sie JF daraufhin. “Nothing somewhere else”, lautet Nicoles so simple wie akkurate Antwort.

“Life… goes by fast”, hat zuvor bereits der zehnjährige Martin in einem Anflug von Ferris Bueller’s Day Off philosophiert, nachdem Nicole und Véronique feststellten, dass ihre bisherigen Fluchtpunkte vor dem Alltag inzwischen längst nicht mehr so viel Spaß machen wie früher. So ist für Nicole nur das wirklich interessant, was neu ist. Egal ob dies JF ist oder ein Familienvater, dem sie bei einem nächtlichen Spaziergang begegnet. “Are you lost?”, fragt sie diesen, da er mit seinem Auto immer wieder um den Block fährt. Er versuche lediglich seinen Sohn zum Einschlafen zu bringen, erklärt dieser. Nicht nur zu dem kleinen Knirps zeichnet sich eine Parallele zu Nicole ab; eigentlich ist es sie, die verloren im Kreis ihres Lebens fährt.

Nicht die einzige Spiegelung. So ist Véroniques Auto Ladybug mal wieder in der Werkstatt. “I can’t just abandon her”, erklärt sie – und könnte damit genauso gut über Nicole reden. Umso bezeichnender, dass dieses Gespräch in einer Szene stattfindet, in der beide Mädchen ziellos ihre Fahrräder über eine Wiese schieben, weil jede von ihnen der anderen folgte. “When the heat and pressure builds up it finally blows”, beschreibt Nicoles Ex-Freund Tommy ihr bei einer späteren Begegnung die Geysire Islands. Auch diese selbst repräsentieren letztlich die junge Frau Anfang 20, deren Sommer einen ganz anderen Verlauf nimmt, als von ihr erhofft. Was ist mit einem Leben anzufangen, das selbst von Zehnjährigen und Kiffern abgehängt wird?

Insofern funktioniert Tu dors Nicole zum einen als Porträt einer planlosen jungen Frau, die noch keine Zielrichtung für ihr Leben entdeckt hat. Zum anderen auch schlicht als Film über einen etwas langweiligen Sommer, wie ihn wohl die meisten schon einmal erlebt haben. Locker und leicht mit sehr feinsinnigem Humor ausgestattet gelang Stéphane Lafleur ein Werk, das mit jeder Sichtung runder wirkt und dessen Nuancen man mehr zu schätzen weiß. Heimlicher Star neben der hinreißenden Julianne Côté ist dabei der altkluge Martin, der dank vorzeitigem Stimmbruch glaubt, bei der doppelt so alten Nicole eine Chance zu haben. “The heart has no age”, schwadroniert der Knabe, der von einem Erwachsenen nachsynchronisiert wurde.

Zum Vorteil gereicht dem Film dabei auch der Entschluss, in Schwarzweiß zu drehen. Vielleicht zum einen als Sinnbild von Nicoles grau-tristem Alltag, vielleicht um bewusst die Nähe zum Arthouse-Kino und seinen Vertretern wie Frances Ha oder Alonso Ruizpalacios’ Güeros zu suchen. In Kombination mit Sara Misharas überzeugender Kameraarbeit und unterstützt von einem harmonischen Soundtrack, der sich zwischen Electro und Rock bewegt, kommt zumindest die technische Aufmachung von Tu dors Nicole tadellos daher. Auch das Darstellerensemble um die starke Julianne Côté und den charmanten Godefroy Reding gibt sich keine Blöße. Stéphane Lafleurs Film ist insofern also eine durchweg runde Sache geworden – très bien.

Die besondere Qualität von Tu dors Nicole ist allerdings seine Hauptfigur, die trotz ihrer teils etwas schroffen Art aufgrund ihrer Verlorenheit ungemein sympathisch wirkt. Sei es, wenn sie sich zu Beginn von einem One-Night-Stand wegschleicht oder in einem Running Gag verstärkt Probleme hat, ihr Fahrradschloss zu öffnen. Côtés Nicole wirkt aufrichtig und lebendig, eine dreidimensionale Repräsentantin einer ganzen Generation im Wartestand. Wer zu dieser Generation gehört oder an Filmen wie Frances Ha und Mistress America bereits Gefallen gefunden hat, ist hier bestens aufgehoben. “This was fun”, sagt Nicole zu ihrem One Night Stand und lässt unklar, ob sie es aufrichtig meint. In Bezug auf Tu dors Nicole bestehen da keine Zweifel.

7.5/10

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen