23. Dezember 2009

Synecdoche, New York

Knowing that you don’t know is the first and essential step of knowing, you know?

Das griechische Wort συνεκδοχή, zu Deutsch „Synekdoche“, bezeichnet ein rhetorisches Stilmittel, bei dem etwas Allgemeines durch etwas Besonderes ersetzt wird. Das Ganze durch ein Teil. Zum Beispiel „der Römer“ für „alle Römer“ oder der Shakespearsche Ausspruch, dass die ganze Welt eine Bühne sei, wobei die Bühne als Teil der Welt für ebendiese steht. Umso passender ist der Titel Synecdoche, New York von Charlie Kaufmans Debütfilm nach eigenem Drehbuch gewählt. Wieder einmal erzählt Kaufman von Künstlern, ihren Ambitionen und ihren Werken. Wo es einst Puppenspieler Craig Schwartz in den Kopf von John Malkovich trieb und Charlie Kaufmans Alter Ego bei der Adaption seiner Adaption sich selbst zu verlieren drohte, liegt es nun am Theaterregisseur Caden Cotard (Philip Seymour Hoffman), ein Meisterstück abzuliefern, ehe seine Zeit gekommen ist. Dabei wartet der Film mit mehreren Synekdochen auf.

Als Caden eines Morgens um 7:45 Uhr aufwacht, erklärt das Radio den Herbst als “beginning of the end”. Elke Putzkammer, eine von vielen Deutschen, die Caden im Laufe des Films heimsuchen, erklärt quasi den Ausnahmezustand auf das Leben. “Whoever is alone will stay alone”, behauptet sie. Kurz darauf fühlt sich Caden nicht besonders gut, während er aus seinem Briefkasten seine abonnierte Zeitschrift Attending to Your Illness holt. Caden ist eine tragische Figur. Ein Hypochonder könnte man meinen, würde man seine vielen Beschwerden nicht selbst sehen. Er liest beim Frühstück die Todesanzeigen und bejammert das Alter der Verstorbenen. Seine vierjährige Tochter Olive schaut sich Cartoons über Viren an, was Caden mit halbem Ohr mitbekommt. Als ihm dann beim Rasieren noch der Wasserhahn gegen die Stirn knallt und ihm der Arzt in der Notaufnahme erklärt, seine Pupillen würden nicht richtig funktionieren, ist für Caden klar: “This is just the start of something awful.”

Kaufman benannte seine Figur nach dem Cotard-Syndrom. Eine Krankheit, benannt nach Jules Cotard (1840-1889), in dem eine Person glaubt, tot oder nicht existent zu sein. Cotards Vorname Caden wiederum entstammt dem französischen Cathán, was „Kampf“ bedeutet. Insofern ist Caden Cotard eine Synekdoche von Synecdoche, New York. Der erzählt von Krankheiten und Tod, aber auch von Liebe und Beziehungen. Von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung zugleich. Über die Handlung zu schreiben wäre müßig. Einer Matrjoschka-Figur gleich werden verschiedene Ebenen der Geschichte sehr komplex, jedoch nicht kompliziert aufgearbeitet. Kaufman erzählt von Cadens gescheiterter Ehe mit seiner Künstlerfrau Adele (Catherine Keener), die ihn schließlich mit der gemeinsamen Tochter und ihrer Freundin Maria (Jennifer Jason Leigh) Richtung Berlin verlässt. Hinzu kommen gescheiterte Beziehungen, darunter zu Hazel (Samantha Morton), der Kartenverkäuferin von Cadens Theater, sowie Claire (Michelle Williams), einer seiner Schauspielerinnen und zweiten Ehefrau.

Als Caden einen Theaterpreis erhält und ein neues Stück plant, verlagert Kaufman seinen Film auf die erste von vielen Stufen seines Synekdochen-Gebildes. In einer riesigen Halle in New York lässt Caden ein Replikat von New York bauen. Die falsche Welt wird mit falschen Ebenbildern der Realität bevölkert. Caden heuert Sammy (Tom Noonan) für die Rolle des Caden an, was zwar äußerlich wenig Sinn macht, aber immerhin hat Sammy den Regisseur die letzten zwei Jahrzehnte verfolgt. “Hire me and you’ll see who you truly are”, erklärt Sammy bei seiner Bewerbung. Der Logik entsprechend verfügt dann auch das falsche New York über eine Halle, in der wiederum ein Replikat von New York gebaut wird. Mit Schauspielern, die angeheuert werden, die Schauspieler zu spielen, die die realen Menschen verkörpern. Ein Szenario, wie man es zuvor schon in Michel Gondrys Musikvideo für Björks Bachelorette gesehen hat.

“It has to do with [Caden] understanding life”, erläutert Philip Seymour Hoffman im Bonusmaterial die Funktion des namenlosen Stückes für Caden. Bezeichnend ist hierbei, dass Caden das Stück nicht dazu nutzt, eine bessere Version seines Lebens zu erschaffen, sondern vielmehr ein Abziehbild seines Alltags. Alles was passiert, findet kurz darauf Referenz im Stück, so als wollte es Caden nochmals analysieren. Nur dass er dies nicht tut. Passenderweise wird das Stück im Filmverlauf nie aufgeführt. So ziehen sich die Jahrzehnte hin und die Schauspieler werden älter und älter, die Kulissen immer verschachtelter. In dieses Szenario verwebt Kaufman nun seine Todessymbole. Caden wird unentwegt mit dem/seinem Tod konfrontiert. Seien es Musikjingles, Werbespots oder Plakate. Dabei spielt Kaufman offen mit Cadens Nachnamen als subtiler Prämisse. Immer wieder hört Caden Anspielungen, die implizieren, er sei bereits tot. “Caden Cotard is a man already dead”, analysiert Millicent (Dianne Wiest), die Sammy zu einem späteren Zeitpunkt als Caden-Darsteller im Stück ablöst.

Dass Caden bereits tot ist, wird mehrmals angedeutet. Wenn er beispielsweise kein Gefühl mehr für Zeit hat. Das erste Jahr von Adeles Abwesenheit kommt ihm wie eine Woche vor und ehe er sich versieht, sind sechs Jahre rum. Dass seine zweite Tochter Ariel, die er mit Claire gezeugt hat, auch nach 17 Jahren Probe immer noch fünf Jahre alt ist, dürfte wohl kaum ein Detailfehler sein. Doch wirklich verifizieren lässt sich sein Tod für Caden nicht - nicht einmal im direkten Dialog mit seinem Arzt. “I’m aching for it being over”, presst ein gealteter Caden 20 Minuten vor Schluss des Films schließlich hervor. Zu diesem Zeitpunkt hat Kaufman längst seine obligatorischen Absurditäten eingestellt. Was Synecdoche, New York zum Meisterwerk macht, ist die Interpretationsebene, die Kaufman mit seinem ersten Regiebeitrag offeriert. Sein volles Ausmaß entwickelt der Film erst bei mehrmaligem Sehen und was bei der ersten Sichtung wie ein typisch skurriles Kaufman-Drehbuch wirkt, offenbart sich bei weiteren Sichtungen als vor Details überschwappende Synekdoche auf Leben und Tod.

“It’s a big decision how one prefers to die”, betont Hazels Maklerin, als sie dieser ein brennendes Haus verkauft und Hazel Befürchtungen äußert, im Feuer sterben zu können. Das brennende Haus ist nur eine von zahlreichen irrwitzigen Ideen, die Kaufman hier aufbietet. Speziell in der ersten Hälfte schenkt er dem Publikum Einfälle wie den vierjährigen Horace Aspiazu, der einen Roman (Little Winky) über einen Neonazi geschrieben hat, ehe er sich mit fünf Jahren umbringt. Oder Hazels Zwillinge, die auf die Namen Robert, Daniel und Alan hören. Synecdoche, New York ist ein Sammelsurium von Ideen, Anekdoten, Interpretationen, Metaphern und Synekdochen. Ein Film, der je nach Blickwinkel und Betrachtung sein Aussehen verändern kann. Eine Eigenschaft, die Kunstwerken innewohnt und als solches Kunstwerk ist auch Kaufmans Film zu sehen. “Everyone is disappointing the more you know someone”, meint Adele bevor sie Caden verlässt. Zehn Jahre nach Being John Malkovich hat Charlie Kaufman noch nicht enttäuscht.

10/10

7 Kommentare:

  1. Ich fand ihn ja eine ganze Spur zu selbstreferenziell, oder anders ausgedrückt: Zu viel Kaufman Midlife-Crisis. Aber sicherlich ein sehr starker Film, wenn man denn Lust auf Kaufmans Midlife Crisis hat.;)

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  2. Ah, das ist also der 10/10er. Noch nie etwas von gehört, werde aber nun die Augen offen halten, zumal Philip Seymour Hoffman die Hauptrolle spielt.

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  3. Ui, ein echter 10er? :D Heute kam er von Amazon an, muss ich mir heute Abend mal zu Gemüte führen.

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  4. Ein kleiner Hinweis zum Wort "Synekdoche". Es geht nicht nur darum, dass ein Teil für das Ganze steht. Dies ist ein Spezialfall der Synekdoche. Es geht zum Beispiel auf umgekehrt, so dass etwas Allgemeines für etwas Spezielles steht.

    Z.B. Da kommt das Gesetz, wenn sich gerade ein Polizist nähert.

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  5. @Anonym: Ah, danke. Man lernt nie aus :)

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  6. Ich hätte diesen Film so gerne geliebt. Doch daraus ist leider nichts geworden. Nach etwa vierzig Minuten fing er immer mehr an mich zu langweilen. Die ewige Ausbau der "Spiegelidee" hat mich irgendwann nur noch genervt. Da halfen auch all die hübschen Details, geschliffenen Dialoge und das zweifellos bemerkenswerte Schauspiel Hofmanns nicht. Ebenso wie ich BEING JOHN MALKOVICH nicht sonderlich ausstehen kann, weil er mir zu kalt ist, die Figuren in ihrer permanenten Grübelei nach einer gewissen Zeit unsympathisch werden, so ist dieses Werk Kaufmanns einfach zu ausladend in Bezug auf die Hauptfigur. Gnädige 6/10!

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  7. Ui, ein echter 10er? :D Heute kam er von Amazon an, muss ich mir heute Abend mal zu Gemüte führen. !!

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