17. Mai 2012

Into the Abyss

But you can be proud of this moment.

Das Zittern war groß, würde es auch dieses Jahr wieder reichen? Immerhin hatten es andere Nationen nicht versäumt, ordentlich aufzuholen, während die USA leicht gestrauchelt waren. Am Ende dann das Ergebnis: Der fünfte Platz in der weltweiten Rangliste konnte gesichert werden! Die USA blieben somit auch 2011 das Land, das in der Zahl seiner Exekutionen nur von vier anderen Nationen übertroffen wurde. Lediglich Saudi-Arabien, Irak, Iran und mit weitem Abstand China töteten im vergangenen Jahr mehr Menschen als die US-Bundesstaaten. Trauer herrscht dagegen bei Nordkorea, das gegenüber 2010 aus den Top 5 flog.

Angesichts der „Konkurrenz“ mag man durchaus den Kopf schütteln, wenn die USA als einziges G8-Land weiterhin die Todesstrafe verhängen (und ausüben) und damit in einem Zug mit der Achse des Terrors von Nordkorea bis Iran genannt werden dürfen. Besonders in Rick Perrys texanischem Bundesstaat nimmt man sich der Todesstrafe beherzt an, wurden dort doch seit 1976 vier Mal so viele Menschen hingerichtet wie im zweitplatzierten Virginia. Ohnehin tötete Texas in 36 Jahren (von 1976 bis 2012) rund 64 Prozent der Zahl an Menschen wie in den über 360 Jahren (von 1608 bis 1976) zuvor insgesamt. Im Schnitt sind es 13 pro Jahr.

Vor zwei Jahren exekutierte Texas sogar 17 Menschen (genauso viel wie offiziell Syrien) und einer von ihnen war der 28-jährige Michael Perry. Im Oktober 2001 soll er Sandra Stotler in ihrer Garage in Montgomery, Texas erschossen haben, um sich ihres roten Camaro zu bemächtigen. Später starben noch Stotlers jugendlicher Sohn Adam sowie sein Freund Jeremy Richardson durch die Hand von Perrys Komplizen Jason Burkett. Gut eine Woche nach der Tat wurden Perry und Burkett von der Polizei verhaftet und überführt. Während Burkett für die Morde an den Jugendlichen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, erhielt Perry wiederum die Todesstrafe.

Rund eine Woche vor ihrer Ausführung am 1. Juli 2010 unterhielt sich Perry mit Regisseur Werner Herzog für dessen Film Into the Abyss über die Tat. Sozusagen. “I don’t want to get into the details of what happened“, erklärt der Deutsche in seinem bajuwarischen Akzent durch die Trennscheibe hindurch dem immer noch jugendlich aussehenden Perry, der zu Beginn des Films mit seiner höflichen Art, seinem unschuldigen Lächeln und seiner Gewissheit, als Christ ins Paradies zu kommen, Begnadigung hin oder her (“I’m either going home or home), gar nicht wie ein kaltblütiger Mörder wirken will. Aber wer tut dies schon?

Obschon sowohl Perry als auch Burkett jeweils dem anderen das ihnen zur Last gelegte Verbrechen in die Schuhe schieben, hat Herzog im Gegensatz zu seinem Freund und Kollegen Errol Morris und dessen The Thin Blue Line kein Interesse, den alten Fall aufzurollen. Für Herzog geht es um etwas anderes, um den menschlichen Abgrund, der sich im Allgemeinen wie in den ausgewählten texanischen Orten im Speziellen auftut. Der Abgrund, der Perry und Burkett einst ausgespuckt hat und anschließend wieder verschlang. Into the Abyss wurde von vielen Kritikern als Film gegen die Todesstrafe gesehen, was er natürlich auch ist, aber noch viel mehr.

Herzog beschäftigt sich natürlich mit dem Mordfall. Er besucht die verurteilten Täter, die Familien der Hinterbliebenen, den Tatort und die Stelle, an der die Leiche von Sandra Stotler in einen See geworfen wurde. “This lady had a car that they wanted“, kürzt Lieutenant Damon Hall von der Montgomery Polizei die Tat auf einen Satz herunter. Herzog bemerkt die vermeintliche Idylle des Ortes und ihren Kontrast zu dem verübten Verbrechen. “A gated community“, pflichtet ihm Hall bei. “You would associate that with security.“ Doch der menschliche Abgrund kennt keine geschlossenen Wohnanlagen, keine Sicherheit – und auch keine Freunde.

“I introduced him to the people who killed him“, presst ein den Tränen naher Charles Richardson hervor, als er mit Herzog über den Tod seines kleinen Bruders Jeremy spricht. Wie sich herausstellt, Herzog befasst sich nur marginal damit, waren Burkett und die Opfer miteinander bekannt. Ohnehin fängt Into the Abyss eine kleine, in sich geschlossene Welt ein. In der jeder jedem schon mal begegnet ist, vermutlich auch im Gefängnis. Egal ob Perry und Burkett, dessen Bruder Chris oder Charles Richardson – sie alle saßen bereits einmal ein. Der Film skizziert eine Welt, in der die Menschen sich selbst überlassen sind. Ohne Vorbilder oder Ziele.

Dabei hat Herzog wie Morris auch ein Händchen für die skurrilen Momente, zum Beispiel wenn er Jared Talbert, einen Einwohner von Conroe, Texas, davon schwadronieren lässt, wie er angeblich einmal 30 Minuten bevor er zur Arbeit musste, tätlich angegriffen worden sei. Aus heiterem Himmel hätte ihm jemand einen ellenlangen Schraubenzieher seitlich unter die Achsel in den Brustkorb gerammt. Weil Talbert jedoch nur ein bisschen blutete, war er statt ins Krankenhaus zur Arbeit gegangen. “I had a lucky day“, sagt der ehemalige Analphabet und Knacki einem amüsierten Herzog und rotzt wie so oft während des Interviews hinter sich auf den Boden.

Vom Absurden bietet Into the Abyss wahrlich genug, allen voran hinsichtlich der Familie der Burketts. Erst 2041 hat Jason Burkett eine Chance auf Bewährung, dann wäre er fast 60 Jahre alt. Nichts Neues in seiner Familie, sein Vater sei ebenfalls seit 40 Jahren im Gefängnis. Und zwar in der Vollzugsanstalt direkt gegenüber, wie er Herzog berichtet. Einen Schnitt später haben wir ihn vor uns, Delbert Burkett, der die Mehrheit seines Lebens hinter Gittern saß, die schlimmste Strafe jedoch im Schicksal seines Sohnes ausmacht. “I’m as much at fault as he is“, gesteht er Herzog. “I was never there.” Eine Ausnahme gab es dann aber doch.

Bei der Gerichtsverhandlung seines Sohnes flehte er die Jury um dessen Leben an, nahm die Schuld für dessen Taten auf sich und würde auch bereitwillig die Haftstrafe des Jüngsten absitzen. Und tatsächlich erhielt Jason Burkett nicht die Todesstrafe, sondern lebenslänglich. “But you can be proud of that“, konsolidiert Herzog den Familienvater. Für den allerdings ist dies nur ein schwacher Trost, berichtet er doch traurig von einem Thanksgiving, das er mit seinen ebenfalls inhaftierten Söhnen Jason und Chris verbringen musste. “It was just total failure. That’s what it felt like“, gibt er seinen Gefühlen Worte. “I don’t think it gets much lower than that.”

Into the Abyss jagt den Zuschauer wahrlich hinab in den Abgrund. Was lief schief bei den Burketts, Perrys und Talberts in Texas? Der seit dem Alter von 13 Jahren drogensüchtige Delbert hatte ein Football-Stipendium, schmiss jedoch im Abschlussjahr die Schule. Was wäre wohl aus seinen Söhnen und ihm geworden, wäre einiges anders verlaufen? Vielleicht genauso wenig, stammt doch auch Perry aus einem soliden Elternhaus und verfiel dennoch den Drogen. “I chose that which I shouldn’t have“, blickt dieser auf die Umstände, die zum Mord an Stotler führten, zurück. Der Abgrund ihres Lebens führte sie alle in den Abgrund des Todes.

Die Leidtragenden sind bei Herzog jedoch nicht nur die Gefängnisinsassen. Wie die Interviews mit den Hinterbliebenen zeigen, sind auch die Familien der Opfer Gefangene. Und zwar ihrer Trauer. Die Tochter von Stotler hat kein Telefon mehr im Haus, um schlechte Nachrichten zu vermeiden, der Bruder von Jeremy Richardson sieht sich mitschuldig an dessen Tod. Sie wurden genauso in den Abgrund gezerrt, wie die Angestellten des Todestraktes, die per Gesetz Menschen ihres Lebens berauben. 120 waren es bei Fred Allen, einem ehemaligen Captain eines Todeshauses, ehe er vor 12 Jahren seinen Job kündigte und damit auch seine Rente verlor.

“Nobody has the right to take another life“, so Allens Erkenntnis. Und im Grunde denkt Vater Ricardo Lopez, ein ebenfalls im Todestrakt Angestellter, ähnlich. Er bricht zu Beginn in Tränen aus, als er über seine Arbeit und all die Menschen sprechen muss, die er in den Tod begleitet hat. “Life is precious“, resümiert der Priester. Wieso Gott die Todesstrafe erlauben würde, fragt ihn Herzog. “I don’t know the answer“, sagt Lopez, während die Kamera von Peter Zeitlinger über den Gefängnisfriedhof schwenkt. Vorbei an all den namenlosen Kreuzen, auf denen lediglich die Lebensspanne und Häftlingsnummer der darunter Liegenden vermerkt ist.

Das passt ganz gut zu Into the Abyss, der quasi im Vorbeigehen seine Kritik zur Todesstrafe loswird. Da spricht Herzog kurz gegenüber Perry an, dass dieser erst eine medizinische Untersuchung bestehen müsse, die ihn als fit genug zum Sterben deklariert, ehe er seine Todesspritze erhält. Und er konfrontiert Stotlers Tochter, die Perrys Tod als Genugtuung empfindet, mit der Frage, ob Jesus das auch so sehen würde? Vermutlich nicht, gesteht die gläubige Frau. Aber im Gottesstaat der USA ist auch Gott scheinbar nur ein kleines Rädchen im System. “There’s always a reason why God allows things to happen“, redet sich Vater Ricardo Lopez ein.

Sicher hätte Herzog oft kritischer nachhaken können, auch wenn seine freundlich-offene Art wohl mehr Redebereitschaft beim Gegenüber erzeugt hat. Etwas skeptisch ist er dann aber doch, als er die schwangere Melyssa Burkett, die Jason erst im Gefängnis heiratete, nach dem Vater ihres Sohnes befragt. Jason wäre das natürlich, Herzog mutmaßt Samenschmuggel. “You live on through your children“, sagt Melyssa. “And the love that you put into them projects to the world.“ Doch Jason wird für seinen Sohn genauso abwesend sein, wie Delbert für ihn. Hoffentlich müssen sie nicht auch eines Tages Thanksgiving hinter Gittern feiern.

7/10

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