19. Juni 2010

Vertige

See our friends, see the sights, feel alright.
(Supergrass, Alright)

Unter der nouvelle vague versteht man im Kino eine filmische Bewegung, die sich in den sechziger Jahren im französischen Kino rund um renommierte Regisseure wie Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Claude Chabrol oder François Truffaut manifestiert hat. In den letzten Jahren hat sich erneut eine Art French New Wave herauskristallisiert, was sich jedoch weniger in den Arbeiten einzelner Regisseure als vielmehr in einer neuen Qualität eines speziellen Filmgenres widerspiegelt. Hatte Alexandre Aja vor sechs Jahren mit Haute tension den Anfang gemacht, vergeht inzwischen kaum ein Jahr, in dem die Grenzen mit Beiträgen wie Frontière(s) oder Martyrs ständig neu ausgelotet werden. Da ist ein Film wie Abel Ferrys Vertige (nunmehr als High Lane vertrieben) geradezu altmodisch und dies im Grunde auf eine äußerst erfrischende Weise. Allerdings bewahrt dies den Berg-Horror nicht davor, gerade im Finale in die böse Klischeefalle zu tappen.

Fünf junge Französinnen und Franzosen machen sich auf eine Mountain-Climbing-Tour in den kroatischen Bergen. Während es für das frische Pärchen Chloé (Fanny Valette) und Loïc (Johan Libéreau) der erste gemeinsame Ausflug ist, wird das junge Glück durch die Anwesenheit von Chloés Ex-Freund Guillaume (Raphaël Lenglet) getrübt. Dieser ist überraschend zur Truppe, die neben Chloé auch ihre und Guillaumes alte Schulfreunde Karine (Maud Wyler) und Fred (Nicolas Giraud) einschließt, hinzugestoßen. Sehr zum Missfallen von Loïc, der allerdings gute Miene zum bösen Spiel macht. Als jedoch der Bergpass gesperrt ist, scheint der gemeinsame Abenteuerurlaub zu Ende zu sein, ehe er richtig angefangen hat. Doch Fred lässt sich nicht aufhalten und über etwas Mühe kommt die Gruppe doch noch dazu, sich an den Berghängen auszutoben. Alle außer der unter Höhenangst leidende Loïc haben ihren Spaß, ehe sich herausstellt, dass der Bergpass wohl aus einem bestimmten Grund gesperrt war. Denn nicht nur die Hängebrücke und einige Sicherheitslinien geben den Geist auf, sondern dank eines mysteriösen Waldbewohners auch kurz darauf das ein oder andere Gruppenmitglied.

Besonders die erste Hälfte zeichnet Vertige als spannenden Film aus, da die Spannung, die durch das Bergsteigen evoziert wird sehr viel intensiver ist, wie die große Horrorhatz, die sich besonders im letzten drittel einstellt. Die Figuren sind sympathisch und gerade der Wandel im Verhalten von Guillaume gegenüber Loïc, als das Unternehmen von Spaß in Seriosität umschlägt, ist sehr gelungen. In welcher Reihenfolge die fünf Endzwanziger ihr Ticket ins Jenseits lösen, wird dabei schon in den ersten fünf Minuten deutlich, da sich die zusätzliche Anspannung einer Dreiecks-Beziehung natürlich nur ungern herschenken lässt. Ohnehin zeichnet Ferrys Film eine überaus glückliche Besetzung aus, sei es hinsichtlich des eye candy Faktors in Bezug auf Wyler und Valette oder generell wegen des sympathischen Charakters aller Protagonisten. Lediglich Libèreau will, wenn wohl auch beabsichtigt, nicht so ganz in die Gruppe der Sport-affinen Freunde passen, was allerdings das positive Bild kaum trübt.

Kurz nach der „natürlichen“ Todesangst des beinahe Verunglückens geht dann der eigentliche Horror los. Es liegen Fußfallen aus, Fallgruben wurden ausgehoben und irgendetwas treibt sich in den Wäldern herum. Jetzt dürfen die Schauspieler das machen, was die Protagonisten in Horror-Filmen am liebsten tun: rennen, rennen, Luft holen und rennen. Dass das Ganze in der Nacht geschieht, verstärkt den Horror nochmals. In diesem klassischen Szenario darf dann auch die ominöse Berghütte voller Leichenteile und abgetrennter Köpfe nicht fehlen. Filme wie Jeepers Creepers lassen Grüßen. Was das Bild dann etwas trübt, sind einige unsinnige Einbauten oder ausgelassene Erklärungen – je nachdem wie man es sehen will. Wieso Guillaume so spontan aufgetaucht ist oder weshalb er vor vier Jahren überhaupt abgehauen ist, bleibt Ferry dem Publikum schuldig. Auch die Funktion einiger nutzloser Rückblenden zu Chloés Assistenzarztzeit will nicht so recht deutlich werden. Gerade dann, wenn sie scheinbar mit der finalen Klimax in Verbindung gesetzt wird.

Im Gegensatz zur im ersten Absatz angesprochenen neuen französischen Welle von brachialen Horror-Slashern kommt Vertige verhältnismäßig ruhig und unaufgeregt daher. Es gibt keine großartigen Gewaltexzesse. Menschen sterben und das kriegt man mit. Das reicht dann auch schon, ohne dass Ferry in bester Eli-Roth-Manier mit der Kamera draufhält, wenn Schädel platzen, Augen ausgestochen werden oder sonstige Perversitäten stattfinden. Dass hierbei die eigentlich Horror-freie erste Hälfte weitaus spannender daherkommt als das hitzige Finale, zeigt, dass sich der französische Regisseur vielleicht doch lieber auf einen reinen Extremsport-Thriller hätte spezialisieren sollen. Denn die unwahrscheinliche Vorhersehbarkeit, die einerseits der Film selbst, andererseits das Genre generell mit sich bringt, ist dem Seherlebnis auch nur bedingt zuträglich. Da hilft es auch nichts, wenn Vertige am Ende nochmals mit letzten erklärenden Worten zusammengeschnürt wird. Somit ist der Film zwar ein durchaus netter Vertreter des Genres, der die Phalanx seiner Landesvertreter durchbricht, aber zu mehr langt es dann doch nicht.

6/10 - erschienen bei Wicked-Vision

1 Kommentar:

  1. Ich sehe den Film einen Tick negativer als du, aber ansonsten Zustimmung. Zu Chloés Trauma: Man kann dahinter eine von vielen Parallelen zu "The Descent" ausmachen. Die zum Teil offensichtliche Orientierung an diesem Film ist wohl auch so gewollt.

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