5. Mai 2009

The Boy in the Striped Pyjamas

Think of it as an adventure. Like in one of your books.

Zu Beginn seines Filmes macht Regisseur Mark Herman eigentlich all das, was man von einem Film über das Dritte Reich nicht sehen möchte. Der Blick der Kamera richtet sich auf die wehende Swastika-Flagge, die nicht einsam und alleine, sondern in einem kleinen Meer von Gleichgesinnten flackert. Doch die anschließende Exposition der Einführung verrät Hermans Intention. Zum einen natürlich die historische Verortung in das deutsche Reich um 1940 herum. Zum anderen aber auch in eine Welt, die nicht von jedem bewusst, sondern vielleicht nur aus Rahmen wahrgenommen wird. Und dessen Bild sich eher auf andere Dinge fokussiert. Denn der Held von The Boy in the Striped Pyjamas ist der 8-jährige Bruno (Asa Butterfield). Bruno lebt in Berlin, wo rote Flaggen mit einem Kreuz drauf wehen und wo Menschen in Jacken mit einem gelben Stern drauf am helllichten Tag von Soldaten auf Laster verfrachtet werden. Und bei sich zu Hause heben alle die rechte Hand, als Brunos Vater Ralf (David Thewlis) nach einer Beförderung die Treppen hinunterläuft.

Man kann nicht wirklich sagen, dass The Boy in the Striped Pyjamas eine Geschichte über den Holocaust ist. Oder über den Nationalsozialismus. Dies alles spielt sich eher im Hintergrund ab als Rahmenhandlung. Als Verortung. Am ehesten ist Hermans Adaption von John Boynes gleichnamigem Roman noch ein Film über Antisemitismus. Erzählt wird die Geschichte von Bruno, einem naiven Sohn des designierten Gauleiters des Konzentrationslagers, das heute sinnbildlich für die Shoa steht. „Think of it as an adventure“, macht Vater Ralf den Wegzug von den Freunden ein wenig schmackhaft. Doch das neue Haus ist ganz und gar nicht freundlich. Vielmehr wirkt es wie ein Krematorium, ist dunkel und düster und damit sinnbildlich für Kälte und Tod. Wegen der Nähe zum Konzentrationslager, welches teilweise von Brunos Zimmer aus sichtbar ist, verbietet ihm seine Mutter Elsa (Vera Farmiga) außerhalb des Hofes zu spielen. Verständlich, dass sich der Junge langweilt und schließlich irgendwann geschickt durch ein Fenster in der Gartenlaube ausbüxt. An der Peripherie des KZ Auschwitz trifft Bruno dann auf den internierten Shmuel (Jack Scanlon), mit dem er sich schon kurz darauf anfreundet.

Der New Yorker Rabbi Benjamin Blech hat sich über Boynes Buch echauffiert, weil es falsifizierend über den Holocaust berichte. In Auschwitz hätte es keine internierten Kinder gegeben. Diese wären gleich bei ihrer Ankunft vergast worden. Andere Quellen aus Auschwitz selbst berichten jedoch von Kindern, die dort für kleinere Arbeiten eingesetzt wurden. Nun ist der Disput über die historische Genauigkeit von Boynes Geschichte – zumindest für den Film – unerheblich, wird doch im Gegensatz zu anderen Werken über eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte zu keinem Zeitpunkt ein solch historischer Bezug hergestellt. Herman erspart sich ein „beruht auf wahren Begebenheiten“, da sein Film nicht die Realität wiedergeben möchte, sondern eine Geschichte über eine Freundschaft darstellt. Die Vorwürfe von Blech, dass es 1941 keine deutschen Kinder im Alter von neun Jahren gegeben habe, die nicht wussten, was ein Jude sei, wirken ebenfalls fehl am Platz. Denn Herman und Boyne konstruieren Bruno sehr sorgfältig als einen überaus naiven Charakter, der auf gewisse Art und Weise in seiner eigenen kleinen Welt lebt.

Dies wird schon zu Beginn deutlich, wenn Herman über Swastikas und Judendeportierung die verspielte und phantasievolle Musik von James Horner legt. Ohnehin stellt Horners Musik, die gerade in den „Flucht“-Sequenzen eine große Ähnlichkeit zu seiner Komposition zu A Beautiful Mind besitzt (sowohl Nash als auch Bruno flüchten aus dem Alltag in ihr „Abenteuer“), ein Sammelsurium von Noten dar, die Brunos Naivität nochmals unterstreichen. Erst zum Schluss, wenn sich der Film in seine dramatische Klimax begibt, wandelt sich Horners Musik zu einem dramatischen Stück, welches in einem schrillen singulären Ton kulminiert. Auch Brunos Ablehnung gegenüber Geschichte als solcher – er liest keine Zeitung und verschmäht den Almanach, den ihm sein Tutor gibt – und seine Bevorzugung von Belletristik untermauern erneut seine naive Einstellung zur Realität. Für ihn ist sein Vater ein Soldat und „der Jud“ zuallererst ein Singularitätsbegriff und keine Sammelbezeichnung.

Stattdessen sieht Bruno die Menschen als Menschen. Sein Kindermädchen Maria (Cara Horgan) wird von SS-Offizier Kotler (Rupert Friend) bei ihrem ersten Aufeinandertreffen mit einem angewiderten Blick wahrgenommen. Nun soll nicht gesagt werden, dass Bruno nicht weiß, dass Maria eine Jüdin ist – der Film macht weder ein Wissen noch ein Unwissen deutlich -, aber unabhängig davon behandelt er sie nicht von oben herab, sondern wie jeden anderen Menschen in seiner Umgebung auch. Ähnlich bei seinem ersten Treffen mit Shmuel, wo sich Bruno lustig über dessen Namen macht. Er hat noch nie von jemand mit einem solchen Namen gehört. Wie auch, es ist ein jüdischer Name. Erst als Bruno von seinem Hauslehrer und seiner Schwester Gretel (Amber Beattie) einige klischeebesetzte Lügen über Juden hört, ist er kurzzeitig etwas vorsichtig im Umgang mit Shmuel. Auch in seiner Beziehung zu Pavel (David Hayman) wird nicht deutlich, dass Bruno irgendwelche Ressentiments gegenüber Juden oder Angestellten des Hauses allgemein hat (gleich welcher Religion sie angehören sollten oder könnten).

Ohnehin hält The Boy in the Striped Pyjamas eine Vielzahl an Figuren mit unterschiedlicher Haltung bzw. Motivation gegenüber den Juden bereit. Angefangen mit Brunos Mutter Elsa, die in ihren Szenen stets eher um ihretwillen beschämt ist, wenn sich Pavel beispielsweise in der Küche aufhält oder Bruno nach einem Sturz verarztet. Der Umstand der Judeninternierung scheint ihr peinlich zu sein und als sie zufällig dank Kotler erfährt, dass die internierten Juden vergast werden, stellt sie ihren Mann entrüstet zur Rede. Es ist der Anfang vom Ende ihrer Beziehung, das wird hier deutlich. Fortan sieht man Elsa stets vergrämt oder mit verheultem Gesicht. Ihre Tochter wiederum ist von einer jugendlichen Begeisterungsfähigkeit erfüllt, wie man sie auch aus Filmen wie Im Westen Nichts Neues kennt. Spätestens als ihr Schwarm Kotler jedoch aufgrund seiner Abstammung an die Front versetzt wird, hat sich auch ihre Unterstützung in verschüchterte Abwendung gewandelt. Auch Kotler selbst, dessen Vater wenn schon nicht von jüdischer Herkunft dann immerhin von einer anti-nationalen Einstellung war, ist eine ambivalente Figur. Sein Wutausbruch am Esstisch und die Ermordung von Pavel dient ausschließlich der Rettung der eigenen Person.

Vieles hängt hier mit Angst und Einschüchterung zusammen. Kotler agiert meist übertrieben, um sich selbst nicht zu verraten. Als er gemeinsam mit Brunos Vater und einigen anderen Nazi-Offizieren einen Propagandafilm a la Theresienstadt ansieht, wendet er sich als einziger von der Projektion ab. Auch Brunos Großvater agiert eher wie jemand, der es sich mit der NSDAP nicht verscherzen möchte. Im Gegensatz zu seiner Frau, die nichts als Hohn und Abscheu für ihren Sohn bereit hält. „Does it still make you feel spezial? The uniform and what it stands for?“, fragt sie ihren Sohn nach dessen Beförderung zum Gauleiter. Ralf habe sich schon als Kind gerne verkleidet. Nach Meinung seiner Mutter versteckt er sich hinter dieser und ihrer ausstrahlenden Uniformität. Ralfs Antwort wiederum hält im englischen Original eine interessante Doppeldeutigkeit bereit: „It’s a party. Let’s not spoil things“. Ähnlich wie Kotler lässt sich aus Ralf zu überzogenen Aktionen hinreißen. Denn genauso wie der Offizier hat auch er eine elterliche Leiche in seinem Keller. Wo Rabbi Blech eine Entschuldigung der Täter sieht – Dienstzwang als Ausrede für Genozid -, lässt sich aber im Umkehrschluss auch nicht einfach eine kollektive Soziopathie diagnostizieren.

Aus diesem antisemitischen Verhalten der übrigen Figuren sticht Brunos naive Freundschaft zu Shmuel hervor. Sicherlich auch dadurch bedingt, dass er niemanden zum Spielen hat und auch sonst keine Ablenkung findet. Nichtsdestotrotz ist die Freundschaft der beiden Jungen, die auch durch eine eingeschüchterte Verleugnung von Seitens Bruno bedingt durch Kotlers Mord an Pavel nicht an Intensität verliert. Es gäbe keinen guten Juden, erklärt Brunos Tutor ihm. Doch da sitzt er, jeden Tag mit Shmuel. Und Shmuel ist nicht böse, weswegen er gut sein muss. Es ist der direkte menschliche Kontakt, der naturgemäß die Vorurteile zum Einsturz bringt. Insofern bleibt die Freundschaft und mit ihr Brunos Naivität auch bis zum Schluss des Filmes bestehen, was sowohl für Buch wie dessen Adaption ein unerwartetes und kompromissloses Ereignis bereithält. Dass Hermans Film auch sonst durch seine Abweichungen runder als Boynes Buch – in dem Hitler und Eva Braun noch einen Auftritt erhalten – daherkommt, verdient ob seiner Seltenheit besonderes Lob.

Obschon der Film in Auschwitz spielt – gewissermaßen – hält sich Herman jedoch mit der direkten Abbildung des Grauens dieses Ortes zurück. Stattdessen beschränkt er sich auf Rauchwolken am Himmel, wenn die Verbrennungen im Gange sind. Auf eine symbolische „Euthanasierung“ von Gretels Puppen, die Bruno zu einem nackten Haufen gestapelt im Keller findet. Oder auf eine den Boden wischende Maria, die Pavels Blut bereinigt, welches von Kotler am Abend zuvor hier abseits des Bildschirms vergossen wurde. Das Grauen muss man nicht sehen, um es zu spüren. Insofern ist The Boy in the Striped Pyjamas ein außerordentlicher Film, der in allen Belangen zu überzeugen vermag. Auch das Ensemble, von den Jungdarstellern wie Butterfield und Scanlon, bis hin zu Friend, Farmiga und Thewlis, gefällt im Grunde durchweg und auch durch die Bank. In der Tat lässt sich dem Film nichts vorwerfen, außer dass er keine historische Wahrheit wiedergibt. Da er dies jedoch auch zu keinem Zeitpunkt angekündigt hat oder versucht, verpuffen Einwände wie die von Rabbi Blech letztlich. Im Vergleich zu zahlreichen anderen Filmen des Genres weiß Hermans Film wenn schon keine originelle, dann zumindest eine weitaus weniger verbrauchte Geschichte zu erzählen. Allen voran ist The Boy in the Striped Pyjamas aber kein Film über die Shoa, sondern ein Drama über eine Freundschaft zweier Kinder. Und ein verdammt gutes gleich noch obendrauf.

9/10 - in anderer Form beim MANIFEST erschienen

4 Kommentare:

  1. Ganz so hohe Töne wie du schlage ich nicht an, aber mir hat er im Großen und Ganzen auch gefallen.

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  2. holla, 9 Punkte?! Ich fand den Film ziemlich platt, konstruiert und hölzern. Nur durch das recht mutige dramatische Ende hats noch zu 4 Punkten gereicht.

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  3. Welcher Film wird auch schon von jedem gemocht? Manche finden den eben doof, andere durchschnittlich und wieder andere klasse. ;)

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  4. Ich finde den Film einfach klasse.Die Geschichte hier ist hervorragend.Ich kann ihn nur weiter empfehlen.

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