18. Oktober 2008

Blindness

The only thing more terrifying than blindness is being the only one who can see.

Unter den Blinden ist der Einäugige König. Die Redewendung kennt man ja und bedeutet, dass man selbst mit Mittelmäßigkeit noch jemandem überlegen sein kann, der schlechter dran ist als man selbst. Der portugiesische Schriftsteller José Saramango verfasste 1995 mit Blindness einen Roman, der in eine andere Richtung geht. Saramango entwarf eine Geschichte über eine Gesellschaft, die plötzlich blind wird. Nicht alle auf einmal, sondern nach und nach. Wie bei einer Epidemie. Was der Portugiese anschließend skizziert ist eine sich selbst demontierende Gesellschaft, die abseits ihrer erschaffenen Bequemlichkeit kaum im Stande ist ihre zivilisierte Ordnung aufrecht zu erhalten. Lange Zeit galt Blindness als einer jener Romane, denen man das Prädikat „unverfilmbar“ anheftet. Doch in heutigen Zeiten bedeutet das nichts mehr. Peter Jackson adaptiert mehr schlecht als recht Tolkiens Lord of the Rings und Tom Tykwer versucht sich noch eine Nummer größer an Süßkinds Das Pafüm. Der Mann, der sich an Saramangos Werk wagte, war schließlich Fernando Meirelles, der sich inzwischen dank Cidade de Deus und The Constant Gardener einen Namen gemacht hat. Mit seinem Film, der die Filmfestspiele von Cannes dieses Jahr eröffnet hat, läutet Meirelles dann auch den Herbst der Oscaranwärter ein, der noch so namhafte Konkurrenz wie Sam Mendes’ Revolutionary Road beherbergt. Ob es dem Brasilianer gelingt erneut seinen Film in der vordersten Front der Kategorien zu platzieren dürfte fraglich sein. Obschon Blindness bisweilen ein filmisches Werk von meisterlicher Intensität ist, büßt die Narration der Geschichte gerade zum Schluss hin stark ein und trübt das Gesamtergebnis.

Urplötzlich wird ein Mann (Yusuke Iseya) in seinem Auto auf offener Straße von einer milchigen Blindheit geschlagen. Der Besucht bei seinem Augenarzt (Mark Ruffalo) eröffnet, dass an seinen Augen kein Schaden festzustellen ist. Ehe er sich versieht, leidet am folgenden Tag auch der Arzt an jener milchigen Blindheit und übergibt sich der Gesundheitsbehörde. Die befürchtete Epidemie bewahrheitet sich. Neben dem Augenarzt und dem ersten Blinden finden sich in einer verlassenen Irrenanstalt auch andere Patienten des Arztes wieder, die in Reichweite des ersten Blinden gekommen sind. Was die anderen Patienten und auch die Gesundheitsbehörde nicht wissen, die Frau des Arztes (Julianne Moore) hat sich ebenfalls einweisen lassen – obwohl sie bestens sehen kann. Im folgenden fungiert sie insgeheim als die Augen des ganzen Blocks, während sich die Zahl der Infizierten immer mehr erhöht. Schon kurze Zeit später beginnen sich Spannungen aufzubauen, denn die Essensrationen der Regierung decken nicht den Bedarf aller Insassen. Deren Zahl wiederum übersteigt allmählich die Kapazität der Anstalt. Bei dem Versuch einer Aussprache erklärt sich ein Barkeeper (Gael Garcia Bernal) zum König von Block 3 und kurz darauf zum Anführer der Anstalt. Er erpresst die anderen Patienten im Austausch für Geld und Schmuck an den Lebensmittelrationen teilhaben zu können. Als die finanziellen Mittel nicht mehr ausreichen, macht er den Vorschlag, dass sich die Frauen des Blocks zur sexuellen Verfügung stellen. Während die gesellschaftliche Ordnung innerhalb der Anstalt fortwährend degeneriert, entfremden sich auch der Arzt und seine Frau, ehe die Situation letztendlich zur Eskalation führt.

Passend zur Thematik der milchigen Blindheit seiner Protagonisten hält Meirelles seine Bilder in oftmals klaren und ausgesprochen hellen Bildern. Diese wirken mitunter fast schon ausgebleicht und verhelfen Blindness zu einer gewissen Sterilität, die das Gezeigte eine Spur transzendenter erscheinen lässt. Durch die Kameraführung von César Charlone fühlt sich der Zuschauer speziell in den Szenen innerhalb der Anstalt gelegentlich selbst wie einer der wenigen Sehenden respektive wie die Frau des Arztes. Unterstützt wird jenes Szenario von der träumerischen Musik Marco Antônio Guimarães’, dessen Thema zum Film in manchen Einstellungen fast schon grotesk ob seines versteckten Optimismus wirkt. Von seiner technischen Seite präsentiert sich Blindness hervorragend. Dem Wunsch von Saramango kam man zwar nach, keine reale Stadt als Hintergrund zu verwenden, doch sind die Einstellungen zu Beginn aus Brasilien durchaus erkennbar. Diese vermischen sich dann später mit Szenenwechseln nach Kanada und Uruguay, sodass Meirelles seinem Film auf überzeugende Weise eine spezielle Globalität zu verleihen weiß. Gerade jene Szenen in der verwahrlosten Stadt hinterlassen einen bleibenden Eindruck, nicht weniger jedoch wie ihre Pendants in der Anstalt. Mehr und mehr degenerieren die Menschen mit ihrer Umgebung, welche sie visuell nicht einmal wahrnehmen können, sodass dieser Umstand nur noch stärker als Spiegelbild ihres eigenen Niedergangs angesehen werden kann.

Mit der visuellen Kraft des Filmes kann die Geschichte selbst dann eher nicht mithalten. Durch Nichtkenntnis der Vorlage lässt sich schlecht bestimmen, ob dies an Saramango oder Meirelles liegt, es wird jedoch von letzterem ausgegangen. Mehrfach verschiebt sich die Sichtweise innerhalb des Filmes, versucht man sich zu Beginn an einer gewissen Objektivität, folgt Blindness ab der Anstaltseinweisung verstärkt der Frau des Arztes. Allerdings wechselt diese Perspektive nach einiger Zeit zu Gunsten des Mannes mit der Augenklappe (Danny Glover), welcher zuvor für den eigentlichen Ablauf der Handlung keine Bedeutung hatte. Er ist es dann auch, der den Film durch seine Erzählstimme bis zum Ende begleitet, was es nicht unbedingt schwer macht der Handlung zu folgen, doch ist es ein etwas störendes Stilmittel, dessen sich der Brasilianer hier bedient. Hierzu zählt auch die fehlende Fokussierung auf alle Figuren, deren Oberfläche Meirelles gelegentlich ankratzt, aber dem nie näher nachgeht. Neben dem Mann mit der Augenklappe trifft dies auch auf die Frau mit der Sonnenbrille (Alice Braga) zu. Wer ist sie? Was macht sie aus? Zwischen der einen Einstellung und der nächsten präsentiert Meirelles auf einmal emotionale Spannungen zwischen ihr und dem Arzt, die dann wieder ebenso schnell verblassen. Und praktisch nebenher führt er eine Beziehung zwischen ihr und dem Mann mit der Augenklappe ein. Große Gefühle, die unverständlich wirken, da man beide Figuren zuvor kein einziges Mal zusammen in einer Einstellung gesehen hat. Traurigerweise trifft diese Vernachlässigung der Charaktere nicht nur die Nebendarsteller, sondern auch den Arzt und seine Frau. Was in ihnen und den anderen vorgeht weiß der Regisseur nicht in seine Bilder zu packen, sodass es einem trotz der dramatischen Bilder schwer fällt, wirklich mit den Figuren zu sympathisieren.

Dies fällt einem besonders beim Verhalten von Julianne Moores Figur schwer, welches selten bis gar nicht nachvollziehbar ist, speziell wenn man die Umstände betrachtet. So offenbart sie jederzeit den Ausweg aus dieser „Hölle“, doch lässt Meirelles sie nicht diesen Pfad bestreiten. In gewissem Sinne ist daher jene Massenvergewaltigungsszene der Höhepunkt des Filmes, von einer derartigen Intensität geprägt, dass sich einem der Magen umdreht. Gerade die Szenen mit dem König von Block 3 sind schwer zu ertragen, da hier die wahre Fratze der menschlichen Existenz zum Vorschein dringt. Dabei besitzt Bernals Figur durchaus Tiefe, wie auch von ihm selbst bestimmt, doch auch jene Tiefe wird von Meirelles nicht wirklich auf die Leinwand transferiert. Der König ist ein Mensch, wie man ihn überall findet, die andere Seite zur Medaille, die mit dem Arzt vervollständigt wird. Wenn hier die Sitten verrohen, nimmt Blindness immense Fahrt auf, ist ein schwer erträgliches, da authentisches Bild der Menschheit und fasziniert. Durch die Vernachlässigung der Figuren, die Art und Weise der Narration und der unsäglichen – obschon hervorragend inszenierten – letzten Viertelstunde verliert der Film sehr viel. Ratsamer wäre es gewesen, weniger Charaktere einzubauen oder wenn schon so viele, diese auch entsprechend auszuleuchten. Mal hü und mal hott geht dann jedoch nicht. Dass Meirelles vieles im Raum stehen lässt, kann man oft nachvollziehen, spielt einiges – zum Beispiel was die Blindheit ist – auch nur eine untergeordnete Rolle. Was Blindness wirklich sein will, verrät sich in seiner letzten Einstellung und den finalen Worten. Dass das, was man zuvor gesehen hat, unweigerlich damit zusammenhängt, erschließt sich einem nicht unbedingt. Meirelles verschenkt viel Potential, was sich seinen mehrfachen Wendungen verdankt. Ist Blindness sowohl vom technischen Aspekt wie seinen Schauspielern gelungen, hapert es doch ein wenig an seiner Geschichte.

6/10

4 Kommentare:

  1. Das hört sich nach einer härteren Version eines Shyamalan Gewürges an. Ich muß aber zugeben, nach Constant Gardener nicht mehr viel von Meirelles erwartet zu haben. Naja, vielleicht dann doch irgendwann mal auf DVD;)

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  2. Nee, Kino, allein wegen der harten Momente. Mich hat ja auch nur die Art und Weise der Narration gestört. Würde ihn jedenfalls besser als TCG einstufen.

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  3. Würde ihn jedenfalls besser als TCG einstufen.

    Das ist ja auch nicht allzu schwer:)

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  4. Aber immerhin schon etwas ;)

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