20. Februar 2011

Kynodontas

Whoever deserves it will get it.

Am 20. Oktober 2006 war es dann soweit. Die Polizei stand vor der Tür. Klingelte, sprach auf den Anrufbeantworter, drohte, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Was war passiert? Der bibeltreue Christ und Musiklehrer Uwe Romeike aus dem baden-württembergischen Bissingen an der Teck hatte drei seiner Kinder nicht in die Schule gebracht. Der Unterricht sei „weder christlich noch wertneutral“ äußerte Romeike damals gegenüber dem Spiegel. Dass in Deutschland Schulpflicht herrscht, war Romeike egal. Es folgte ein großes Drama. „Die Beamten brachten die aufgeregten und weinenden Kinder zur Schule“, schilderte die Süddeutsche Zeitung damals. Vor einem Jahr erhielten die Romeikes schließlich politisches Asyl in den USA, wo sie nun das Recht haben, ihre Kinder Zuhause zu unterrichten.

Deutschland hat was das Thema „Hausunterricht“ angeht in Europa eine Ausnahmestellung. Denn hier herrscht keine Bildungs-, sondern eine Schulpflicht. Während Hausunterricht in anderen Ländern wie England und Frankreich also möglich ist, wird er in Deutschland nur in Extremfällen gestattet. Zwar ist Hausunterricht nicht das Thema von Yorgos Lanthimos’ Kynodontas, aber auch bei Lanthimos sind drei Kinder abhängig von der Obhut ihrer Eltern. Auf einem idyllischen Anwesen hält ein Fabrikant (Christos Stergioglou) seine Familie gefangen. Im Einvernehmen mit seiner Frau (Michele Valley) dürfen der gemeinsame Sohn (Christos Passalis) und die beiden Töchter (Aggeliki Papoulia, Mary Tsoni) das Gelände nicht verlassen. Von der Außenwelt kriegen sie nichts mit.

Vorbei fliegende Flugzeuge sind Spielzeuge - ein Glauben, den der Vater dadurch aufrecht erhält, da bisweilen eines von ihnen im Garten landet. Tagsüber vertreiben sich die Kinder die Zeit, indem sie sinnlose Wettkämpfe um die Gunst ihres Vaters führen. Zum Beispiel, wer am längsten die Luft anhalten kann. Und wenn Vater gut gelaunt ist, dann wird abends sogar ein Familienvideo geschaut oder Musik des Großvaters gehört, der eigentlich Frank Sinatra heißt und dessen Worte der Vater ad hoc übersetzt. Alle scheinen glücklich. Die Eltern, weil sie ihre Kinder vor den Gefahren der Welt schützen. Und die Kinder, weil sie es nicht besser wissen. Bis der Vater glaubt, die sexuellen Wünsche seines Sohnes befriedigen zu müssen und eine Außenstehende nach Hause bringt.

Dass Kynodontas dieses Jahr für einen Academy Award als bester fremdsprachiger Film nominiert ist, verwundert. Denn der Film ist alles andere als massentauglich. Vergleiche ordnen Lanthimos’ zweiten Spielfilm zwischen den Enfants terribles Lars von Trier und Michael Haneke ein. Und der Grieche scheint fraglos beeinflusst von Haneke, von Trier, Pasolini und dergleichen Regisseure, die auf kontroverse Weise soziokulturelle Denkansätze verfolgen. In einer Szene erfragt der Vater bei einem Hundetrainer den Fortschritt seines Dobermanns. Dieser zeige jedoch noch nicht “how we want your dog to behave“. Ähnlich wie der Hundetrainer den Dobermann scheint der Vater wiederum seine Kinder abzurichten. Das Resultat sind dabei meist absurd-komische Erziehungsmaßnahmen.

Da wird gerne mal mit Familienzuwachs und Zimmerzusammenlegung gedroht, wenn die Mutter verkündet, sie sei schwanger mit Zwillingen und einem Hund. Nur um zu beschwichtigen: “I might avoid giving birth“. Auf Nachfrage verkommen Zombies dann zu gelben Blumen und eine plötzlich in das Anwesen eindringende Katze wird als “the most dangerous animal there is“ tituliert. Nichts, was passiert, wird von Vater und Mutter außer Acht gelassen, jede Kleinigkeit zum Bestandteil ihres Lügengerüsts und die Beteiligten letztlich die Opfer jenes selben. “You can’t trust anyone anymore“, sagt der Vater im dritten Akt, in welchem auch die letzten Grenzen zwischen Moral und Ethik verschwimmen. Getreu dem Marquis de Sade: „Jedes universale Moralprinzip ist ein vollkommenes Hirngespinst.“

Lanthimos ist mit Kynodontas ein ungemein faszinierender Film gelungen, in dem nicht wirklich viel gesprochen oder agiert wird, was jedoch keineswegs dazu führt, dass er an Aufmerksamkeit einbüßt. Dass man im Grunde nichts erfährt, weder wie in medizinischer Hinsicht mit den Kindern verfahren wird, ob diese glauben, dass es mehrere, ihrem Anwesen ähnliche „Enklaven“ gibt oder warum eigentlich ein verlorener Bruder auf sich allein gestellt hinter dem Holzzaun im Garten leben soll, stört nicht. Die Dinge sind eben so, wie sie sind und werden vom Zuschauer wie den Kindern gleich akzeptiert. Dass diese aufgrund ihres Verhaltens jene naive Unschuld bewahrt haben, die ihnen die Eltern lassen wollten, ist Voraussetzung für die Funktionalität und Authentizität des Gezeigten.

Die Inszenierung des Films ist minimalistisch, wie auch das Spiel der Beteiligten. Die Dialoge werden oft hölzern und emotionslos vorgetragen, die Lieb- und Leblosigkeit ein Spiegelbild der Kinderseelen. Eventuell als Analogie auf die Genesis sind es dabei die Töchter, die die Grenzen ihres „Paradieses“ ausloten. So unkonventionell und gut Kynodontas ausfallen ist, erscheint es dennoch unwahrscheinlich, dass er tatsächlich mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Was den Verdienst des Films für das griechische Kino nicht schmälert. Im Übrigen ist Hausunterricht auch in Griechenland illegal. Aber wie meinte schon de Sade: „Es gibt keine Handlungsweise, und mag sie uns noch so unmoralisch erscheinen, die nicht irgendwo auf der Welt als selbstverständlich geduldet oder gar gebilligt würde.“

8/10

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