26. Februar 2009

Kurz & Knackig: Kino kontrovers

Boksuneun naui geot (Sympathy for Mr. Vengeance)

Er war auf der Berlinale erfolgreich, in Cannes und bei den Filmfestspielen von Venedig. Der Südkoreaner Park Chan-wook zählt zu der Beletage der internationalen Regisseure. Besonders die „Rache“-Trilogie sticht dabei aus der Filmographie von Park hervor. Von 2002 bis 2005 widmete der Koreaner sich dem Thema Rache und ließ auf das Publikum einen audio-visuellen Bilderrausch los. Den Anfang bereitete sein Boksuneun naui geot, der vor sieben Jahren erschien. Die Geschichte selbst ist ziemlich tragisch. Der taubstumme Ryu (Shin Ha-kyun) versucht Geld für die lebensnotwenige Operation seiner Schwester aufzutreiben. Dabei entführt er die Tochter des Industriellen Dong-jin (Song Kang-ho), die aufgrund zufälliger Umstände ums Leben kommt. Dong-jin beginnt seinen Rachefeldzug.

In seinem Erstlingswerk spielt Park noch sehr viel umfangreicher mit schwarzem Humor als bei den beiden Nachfolgern. Allein die bittere Ironie, dass Ryu seine Niere spendet und sein Vermögen bezahlt, um eine Niere als Ausgleich zu kriegen, nur um letztlich ohne Niere(n) und Geld dazustehen, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Hinzu kommen die beiden sehr unglücklichen Todesunfälle seiner Schwester und des entführten Kindes. So endet Boksuneun naui geot wie eine klassische griechische Tragödie, wenn am Ende des Filmes alle Beteiligten den Tod erleiden. Abgesehen von einen geistig Behinderten, der quasi als der Narr des Stückes überleben darf.

Der erste und zugleich schwächste Teil von Parks „Rache“-Trilogie macht bereits einiges richtig und manches doch falsch. Der Film beherbergt einige überaus gelungene Szenen, beispielsweise Ryu und seine Freundin Yeong-mi (Bae Doona), die über einen Spiegel miteinander kommunizieren oder auch Ryus Rache an den Organhändlern. Doch im Gegensatz zu den beiden Nachfolgern fällt die Konstruiertheit der Geschichte hier weitaus stärker ins Gewicht. Speziell die Ermittlungen von Dong-jin wirken teilweise unglaubwürdig. Zudem ist der Behinderte, obschon er der Auslöser für die Mehrheit der Morde ist, ein Lästigkeitsfaktor. Nie macht sich Park die Mühe zu erklären, was er eigentlich so weit außerhalb zu suchen hat. Nichtsdestotrotz ist Boksuneun naui geot verhältnismäßig gelungen, zumindest ein guter Auftakt für die Trilogie.

6/10

Oldeuboi (Oldboy)

Quentin Tarantino wollte Park Chan-wooks Oldeuboi 2003 in Cannes die Palm d’Or verleihen, musste sich allerdings den restlichen Jurymitgliedern hinsichtlich Michael Moores Fahrenheit 9/11 geschlagen geben. Nichtsdestotrotz hat Parks Mittelteil seiner „Rache“-Trilogie inzwischen Kultstatus erreicht. Da man in den USA allerdings recht wenig mit Filmen anfangen kann (oder will), die aus dem nicht-englischsprachigen Raum kommen, muss wie so oft ein Remake her. Die Kombination der neuen Produzenten sorgte bei Fans des Filmes für Belustigung. Steven Spielberg produziert das Remake, welches Will Smith in der Hauptrolle sehen wird. Sehr lustig, speziell erste Photoshop-Bilder, die Smith mit einem Walkie-Talkie in der Hand zeigen. Hollywood – die Albtraumfabrik.

Eben noch betrunken in der Polizeiwache gesessen, verschwindet Oh Dae-su (Choi Min-sik) im Seouler Regen plötzlich. Für die nächsten fünfzehn Jahre wird er in eine Einzimmerwohnung gesperrt. Er erfährt weder den Grund für seine Gefangennahme, noch wer ihn gefangen hält und wie lange die Gefangenschaft anhalten wird. Während dieser Zeit wird Dae-sus Frau umgebracht, der Mord ihm in die Schuhe geschoben. Nach fünfzehn Jahren folgt die Kehrtwendung. Man lässt Dae-su frei und gemeinsam mit der unbekannten Mi-do (Kang Hye-jeong) macht dieser sich auf die Spurensuche. Sein mysteriöser Entführer, Woo-jin (Yu Ji-tae), gibt sich schließlich zu Erkennen, doch Dae-su muss selbst den Grund herausfinden, weswegen er die letzten Jahre inhaftiert war.

Die erste Stunde lang gibt Oldeuboi sich hochkomplex, während die Auflösung des ganzen Tramtrams dann im Grunde etwas enttäuschend ist. Hier ist die Konstruktion der Geschichte offensichtlich, wirkt jedoch nicht als so großer Störfaktor wie im Vorgängerfilm Boksuneun naui geot. Der treffende Ausdruck für die Auflösung des Filmes ist wohl „übertrieben“. Übertrieben ist es, dass Dae-su sich scheinbar nicht mehr an Soo-ah erinnern konnte, übertrieben ist es, wie das Gerücht ungeahnte Ausmaße annimmt, übertrieben ist es, wie Woo-jin letztlich deswegen reagiert. Viele inhaltliche Aspekte ließen sich Parks Film gegenüber vorwerfen, doch werden die meisten Faktoren dann doch von der audio-visuellen Wucht der Inszenierung egalisiert.

Die Komposition der Szenen, allen voran bereits die dramatische Einführung bis hin zur legendären Flur-„Schlacht“ sind mitreißend. Die finale Enthüllung von Woo-jins Geheimnis sitzt dabei wie ein Schlag in die Magengrube, wie ohnehin der Showdown im Penthouse abgesehen von den Rückblenden ganz besonders gelungen ist. Die Darsteller spielen dabei allesamt exzellent und liefern eine großartige Ensembleperformance ab. Das Sahnehäubchen ist jedoch Jo Yeong-wooks Komposition zum Film, die mit zahlreichen Stücken Vivaldis angereichert wurde. Insgesamt ist Oldeuboi der gelungenste Teil der „Rache“-Trilogie Parks, da einfach am mitreißendsten und bildgewaltigsten inszeniert.

8.5/10

Chinjeolhan geumjassi
(Sympathy for Lady Vengeance)

Zwei Jahre nach Oldeuboi folgte mit Chinjeolhan geumjassi der Abschluss von Park Chan-wooks „Rache“-Trilogie. Das Rachemotiv wird diesmal auf eine weibliche Protagonistin projiziert und Choi Min-sik verkommt nunmehr vom Opfer zum Täter. Ähnlich wie auch die beiden Vorgänger gelang es Park auch in diesem Film ein überzeugendes audio-visuelles Paket zu schnüren, das jedoch hinsichtlich der Konstruiertheit der Handlung auch dieselben Mängel aufweist. Hinzu kommt, dass Aspekte wie die Gefängnisszenen nicht besonders originell wirken, kennt man diese doch bereits aus Sasori. Grundsätzlich bildet der Film jedoch einen stimmigen und abgerundeten Abschluss unter die Trilogie, speziell natürlich, weil er deren Geist treu bleibt und dieselbe Stimmung zu evozieren weiß.

„Sie müssen das Messer nach oben halten, sonst rutscht es ab“, erklärt der polizeiliche Ermittler einer Frau, die im Begriff ist kollektive Selbstjustiz auszuüben. Es ist jene Sequenz im verlassenen Schulgebäude, die ohne Zweifel harter Tobak ist. Die herzensgute Frau Geum-ja (Lee Young-ae) hat sie allesamt zusammengebracht, die Eltern von fünf ermordeten Kindern. Der Peiniger sitzt den Flur hinunter und hört sich per Stereoanlage an, wie man seinen Mord plant. Wie auch in den beiden Vorgängern ist Chinjeolhan geumjassi ein Film über kaltblütige Rache einer verstörten Figur. Wie auch in den beiden Vorgängern ist die Handlung nicht unbedingt sauber ausgearbeitet. Es wird nie klar, welchen psychischen Schaden Geum-ja als Schülerin hatte und was sie in die Arme von Herrn Baek (Choi Min-sik) trieb. Auch der Mord an jenem ersten Kind wird nicht wirklich thematisiert, vieles bleibt hier ungeklärt.

Doch auch hier weiß, wie schon bei Oldeuboi der Fall, der Inszenierungsstil von Park einiges zu retten. Dabei wird der Film fast ausschließlich von Lee Young-aes brillanter Darstellung getragen, ähnlich wie auch schon bei Choi im Vorgänger. Höhepunkt von Chinjeolhan geumjassi ist jenes Selbstjustiz-Treffen und der anschließende Mord an dem Verursacher für alles Leid. Großer Störfaktor des Filmes ist allerdings Jenny, Geum-jas Tochter, die sie sich aus Australien ausgeborgt hat. Dieser versucht sie in brüchigem Englisch beizubringen, weshalb diese einst von ihrer Mutter zurückgelassen wurde und weshalb diese nun tun muss, was sie tut. Nicht ganz so stark wie Oldeuboi komplettiert Parks Abschluss jedoch die Trilogie sehr gekonnt.

7/10

13 Tzameti

Damals ging ich ab wie Schnitzel, als ich den Trailer zu Géla Babluanis 13 Tzameti gesehen habe. Na gut, sagen wir wie ein Kinderschnitzel. Und letztlich hat der Film dann die Erwartungen nicht enttäuscht. Durch den Schwarz-Weiß-Ton wird ein gewisses Arthouse-Feeling erzeugt, das dem Film gut zu Gesicht steht. Die Einleitung der Geschichte durch Dachdecker Sébastien (George Babluani), der auf eine mysteriöse Einladung zu einem lukrativen Schwarzmarktspiel stößt, ist überzeugend inszeniert. Sébastiens Bruder hat eine Behinderung, die Familie braucht Geld, der Dachdeckerjob wird nicht entlohnt, da der Auftraggeber verstorben ist. Da dem Jungen nicht viel übrigbleibt, nimmt er kurzerhand die Einladung an, die eigentlich seinem ehemaligen Auftraggeber gebührte. Vor Ort angekommen stößt seine Anwesenheit auf Unwillen, aber was wollen die Beteiligten machen? Denn das Spiel beginnt und ein Spieler ist von Nöten.

Erst jetzt merkt Sébastien worauf er sich eigentlich eingelassen hat. In einem Keller werden 13 Männer in einem Kreis aufgestellt. Jeder erhält eine Kugel in seine Revolvertrommel. Die Mündung wird an den Hinterkopf des Vordermannes angelegt und wenn eine Glühbirne aufleuchtet, hat man abzudrücken. Reiche Geschäftsleute setzen nebenbei verschiedene Summen auf den Erfolg ihres Spielers. Ein makabres Szenario, das man in seiner perversen Lüsternheit aus Hostel gewohnt ist. Nur ist Babluanis Film sehr viel besser als Eli Roths torture porn. Die große Stärke von 13 Tzameti ist es, dass der Zuschauer mit Sébastien jede Runde mitfiebert, mit ihm leidet und auf das Aufleuchten der Birne gespannt ist. Dabei steht außer Frage, dass er überlebt, anders wäre die Geschichte nicht zu erzählen. Dennoch eine derartige Intensität zu erzeugen, verdient sich zweifellos Lob.

Denn obschon die Ereignisse in Babluanis Film vorhersehbar sind, in jedem einzelnen Viertel lässt sich das Ende erahnen, gelingt es dem Georgier nicht nur Sympathien für seinen Protagonisten zu erwecken, sondern auch das Publikum am Ball halten zu lassen. Die Übergänge der verschiedenen Akte gelingen meist problemlos, die Simplizität der Geschichte fällt kaum auf. Mit 13 Tzameti ist Babluani ein intensives Seherlebnis gelungen, dass bis zu seinem konsequenten Ende stark inszeniert ist. Die Besetzung des amerikanischen Remakes liest sich prinzipiell recht gut (Jason „The Stath“ Stafam, Mickey Rourke, die Ray’s Winstone und Liotta), doch wird der Film in Farbe wenig überzeugend sein. Oder anders gesagt: das Remake stinkt schon jetzt, allein weil man Stafam nicht dieselbe Nervosität und Todesangst eines George Babluani abkaufen wird (ich gehe einfach mal davon aus, dass es The Stath sein wird, der die Hauptrolle übernimmt). Von daher gilt: schnell noch das Original anschauen, dann kann man sehen, wie wenig es eigentlich braucht, um einen packenden Thriller zu drehen.

8/10

Seul contre tous (Menschenfeind)

Den Film mochte ich mal. Sozusagen. Ich hatte ihn zuletzt vor sechs Jahren etwa gesehen und hatte zu dieser Zeit noch nicht viele Filme der „Kino Kontrovers“ Reihe gesehen oder generell Filme, die man als „kontrovers“ ansehen ko(e)nnte. Im Nachhinein ist der Film über weite Strecken doch enttäuschend, speziell ob seines verkappten Endes, das weder Fisch noch Fleisch sein möchte und seiner unwahrscheinlichen Geschwätzigkeit, die einen Woody Allen Film glatt zum Stummfilm degradieren würde. Ja, der Schlachter (Philippe Nahon) ist ein armes Schwein, hat ihn doch die Mutter verlassen, der Vater wurde im Krieg getötet. Als es dann aufwärts ging, mit der eigenen Metzgerei und einer schicken Fabrikantin, ist die auch von dannen gezogen, als die Tochter kam. Wie unterkühlt die Beziehung zu dieser ist (er musste sich stets beherrschen sie nicht zu vergewaltigen), erklärt sich in ihrem Schweigen, welches letztlich auch mit zur eigentlichen Tragödie führt.

Aufgrund eines Missverständnisses (siehe Carne) landet der Schlachter im Bau und die Tochter im Heim. Jetzt ist er fertig mit der Welt und auch seine Neue ist eigentlich nur am Nerven. Aber er ist ein Schwanz und muss hart sein, um die Löcher zu stopfen. Irgendwann ist es jedoch zuviel, der Druck der Gesellschaft als solcher ist ihm zu groß. Es eskaliert und der Schlachter steht mit dem Rücken zur Wand. Nachvollziehbar. Die Freunde wollen oder können ihm kein Geld leihen, ohnehin herrscht gerade eine Rezession. Life is a bitch and the butcher married one. Der deutsche Verleihtitel ist ausnahmsweise gut gewählt: Menschenfeind. Der Schlachter ist ein Misanthrop par excellence, hasst er doch alles und jeden. Wenn ihm jemand krumm kommt, ist er ein Ausländer oder Homosexueller. Ohnehin braucht Frankreich mal wieder einen wie Robespierre. Und selbst wenn nicht, er - der Schlachter - wird sie alle ficken; soviel steht fest.

Mit seinen rasanten Schnitten, untermalt von dem explosiven Geräusch einer Gewährkugel, und seinen Kameraeinstellungen weiß der argentinisch-stämmige Gaspar Noé visuell durchaus zu überzeugen. Nur der Inhalt, der sich bisweilen bei Martin Scorseses Taxi Driver bedient, bleibt da etwas auf der Strecke. Die inneren prätentiösen Monologe des Schlachters sind zwar mitunter recht nett, aber auf die Dauer ermüdend. Dass er nur faselt, ohne zu Handeln, ist konsequent hinsichtlich seiner nicht vorhandenen Entwicklung, stagniert aber nach seiner Flucht aus Lille, ehe es ins Finale übergeht. Dieses wird von Noé kongenial mit einer Titelkarte eingeleitet, die letztlich aber verpufft. „Die Befriedigung mir meinen Wunsch erfüllt zu haben und nicht die Vorstellung der anderen“, erklärt der Schlachter in der finalen Einstellung, wenn er seine Tochter doch nicht erschossen hat, wie man es ja eigentlich erwarten würde. Damit reißt Noé kurz sein absurdes „Happy“ End - sehr zynisch mit Johann Pachelbels „Canon in D Major“ unterlegt - heraus, würde er es mit dem Inzest nicht sogleich wieder korrumpieren. So möchte Seul contre tous etwas sein, was ihm schließlich nicht gelingt darzustellen. Eine sehr positive (und gute, das will ich nicht abstreiten) Besprechung findet sich beim zeitverschwender - meine Sympathien sind allerdings verflogen.

6/10

Irréversible

„Kennst du Le Tenia?“, hallt es durch das „Rectum“ und wohin das Auge reicht sieht man sich sexuell befriedigende Homosexuelle (sowie den Regisseur Gaspar Noé). In seinem Film Irréversible rühmt sich das DVD-Cover damit, dass fast jeder zehnte Zuschauer bei der Premiere in Cannes den Saal vorzeitig verlassen hat. Noés Geschichte einer rückwärts erzählten Vergewaltigung und ihrer folgenden Rache lässt sich leicht als prätentiöses, homophobes Filmchen beschreiben. Aber auch als unglaublich tiefsinniges, metaphysisches Paradebeispiel auf Determinismus und Kausalität in diesem unserem Universum. Generell ließe sich sagen, dass es ein Werk ist, auf das man sich einlassen muss - wenn man sich denn darauf einlassen könnte. Die Intensität der ersten Hälfte ist berauschend und mitreißend. Ein Sog von Gewalt und rasender Wut. Die Vergewaltigung von Alex (Monica Bellucci) bildet hierbei das Mittelstück von Irréversible und zugleich das Ende beziehungsweise den Anfang einer von zwei Teilgeschichten.

Im Kleinen ist Noés Nachfolger von Seul contre tous - der Schlachter erhält einen Kurzauftritt - ein visuelles Meistwerk. Nicht nur dass die Handkamera durch ihre vollständige Auslastung den Zuschauer mitnimmt auf diese emotionale tour de force, sondern sie passt sich auch der Geschichte an. Mit fortlaufender Erzählung gewinnt sie an Statik, wird ruhiger, wie auch die Handlung ruhiger wird. Sinnbildlich hierzu sind auch die beiden männlichen Protagonisten zu betrachten. Zeichnet sich Marcus (Vincent Cassel) in der ersten Hälfte des Filmes als wild gewordener Rächer aus, den Pierre (Albert Dupontel) versucht zu beschwichtigen, so wandelt sich das Bild, wenn das Trio sich auf den Weg zur Party macht. Hier ist Marcus der Besonnene und Ruhige, während Pierre in aller Öffentlichkeit seiner Eifersucht und Paranoia freien Lauf lässt und eine Szene aufgrund des Sexlebens seiner Ex, Alex, veranstaltet. Über Alex wiederum erfährt das Publikum erst in den letzten zehn Minuten etwas mehr, bildet sie zuvor lediglich den Antrieb und roten Faden der Geschichte.

In seinen letzten Minuten offenbart Noé dann viel über seinen Film selbst. Zum einen hängen in Marcus’ und Alex’ Schlafzimmer Plakate sowohl von What’s Love als auch von 2001: A Space Odyssey (letzteres mit dem berühmten Spacebaby), welche wiederum Bezug auf die Beziehung zwischen Marcus und Alex nehmen. Dann wiederum erzählt Alex ihren Traum von dem in roter Farbe getauchten Tunnel, in welchem sie später/vorher vergewaltigt wurde und Marcus zeigt seine Intention, mit ihr Analverkehr zu haben, was ebenfalls wieder die Vergewaltigung vorweg nimmt. Zuletzt inszeniert Noé seine Darstellerin dann in der wohl friedlichsten Montage des Filmes, im Park das Buch An Experiment With Time von J.W. Dunne lesend. Diese wiederum beschäftigt sich mit jener Zeitebenengleichheit und dem Bewusstsein des Menschen. Zu guter Letzt endet der gebürtige Argentinier dann seinen wohl stärksten Film mit der passend-zynischen Einblendung der Worte: le temps detruit tout (Die Zeit zerstört alles). Irréversible ist ein intensives Seherlebnis und hat über all die Jahre seit meiner letzten Sichtung nicht wirklich von seiner Stärke eingebüßt.

8/10

Zoo

Toleranz ist ja immer so ne Sache. Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Im amerikanischen Bundesstaat Washington lebten einige Männer auf einer Farm, wo sie sexuellen Kontakt zu Pferden hatten. Das ganze wurde letztlich öffentlich, als Kenneth Pinyan, einer der Männer, aufgrund einer Bauchfellentzündung starb, die ihm durch Sex mit einem Araberhengst zugeführt wurde. Seitdem ist in den USA nunmehr Sex mit Tieren per Gesetz verboten. In seinem etwas mehr als einstündigen Essayfilm widmet sich Robinson Devor nun jenen Männern aus Enumclaw und ihrer … ungewöhnlichen sexuellen Neigung. Devors Zoo mutet zwar wie eine Dokumentation an, ist jedoch nicht als solche inszeniert. Dafür wirken die meisten Szenen zu künstlich und gestelzt, ganz davon abgesehen, dass zahlreiche engagierte Schauspieler Rollen übernommen haben.

Ich selbst hab nicht wirklich Zugang zum Film bekommen, der irgendwie keinen richtigen Inhalt besitzt oder eine Botschaft verkünden möchte. Devor zeigt eben diese Männer, die sich auf ihrer Farm besaufen und erklären, dass sie Pferde lieben. Und zwar etwas mehr als nur auf platonische Weise. Dabei ergreift Devor keinerlei Partei, sein Essayfilm ist durchaus schnörkellos inszeniert. Dass die Mehrheit der Zuschauer jene Aktionen eher weniger gutheißen, dürfte jedoch offensichtlich sein. Und so erzählt uns Zoo auch nichts unbedingt Neues. Denn wenn ein Mann lieber mit einem Pferd Sex hat, als mit einem Menschen, dann gehe ich davon aus, dass da auch eine emotionale Bindung herrscht. Schön photographiert ist Devors Film jedoch fraglos. Speziell die Einstellungen, welche die Natur mit einbeziehen, sind von einer fast schon poetischen Schönheit. Der Inhalt der Bilder kann da jedoch weniger mithalten. So ist Zoo eigentlich nicht mehr, als nachgestellte Szenen von Männern, die über Pferde reden, als wären es Menschen. Dem Kleriker hat’s gefallen, mir leider nicht.

4/10

Ex Drummer

Skandal, im Sperrbezirk! Damals brannte wohl die Hütte, als Koen Mortiers Adaption von Hermann Brusselmans Roman in die belgischen Kinos kam. Brusselmans, seines Zeichens ohnehin ein Skandalautor, schreibt gerne über Promiskuität und Alkoholismus. In Ex Drummer schickt er den erfolgreichen Schriftsteller Dries (Dries Van Hegen) auf eine kleine Recherchereise in die Untiefen der Asozialität. Drei mehr oder weniger Behinderte klingeln eines Tages an Dries’ Luxusapartment in Ostende. Einen Drummer brauchen sie, für ihre Band. Einzige Voraussetzung ist, dass Dries eine Behinderung vorweisen muss. Macht er. Er kann nicht Schlagzeug spielen. Obwohl er es eigentlich doch kann. Aber warum sollte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen? Recherche direkt am Objekt. Die niederste Stufe der menschlichen Gesellschaft. Das schreit nach einem neuen Buch. Und nebenher kann man auch etwas Spaß haben.

Zu Beginn offeriert Mortier einige visuelle Spielereien, lässt er doch seine Einleitung rückwärts ablaufen. Und den misogynen Koen (Norman Baert) filmt er unentwegt kopfüber, was zugegebenermaßen gut aussieht. Brusselmans Geschichte handelt von der Band „The Feminists“, die einen Rockwettbewerb gewinnen wollen. Der Star: die einzelnen Bandmitglieder. Koen, der gerne Frauen zusammenschlägt, ist vorbestraft und bezeichnet seine frühere Berufskarriere als „Gewalttätigkeit“. Interessant ist es dann allerdings zu sehen, wie er im Laufe des Filmes mehr und mehr das Kommando an Dries abgibt, wobei dieser ihm körperlich unterlegen sein dürfte. Jan (Gunter Lamoot) hat einen gelähmten rechten Arm, seit ihn seine Mutter beim Onanieren erwischt hat und Ivan (Sam Louwyck) ist taub, weil er seine Mutter wiederum beim Sex erwischt hat. Dries andererseits ist arrogant, was sich angesichts seiner sozialen Stellung von selbst ergibt. Mit seiner Freundin Lio (Dolores Bouckaert) lebt er in einer offenen Beziehung und amüsiert sich über die Stupidität des Pöbels.

In Ex Drummer begibt sich nun Dries in die Untiefen der Gesellschaft, um diese letztlich vorzuführen und seinen Spaß an ihnen zu haben. Bezeichnend, dass er abgesehen von seinem eigenen Umfeld mit niemandem aus der Mittelschicht (die ohnehin im Film nicht vertreten ist) verkehrt. Es ließe sich also durchaus argumentieren, dass Koen und die anderen nur deshalb so asozial daher kommen, weil das Publikum sie quasi durch die Augen von Dries so wahrnimmt. Dies würde wiederum die Frage aufwerfen, wie Dries zur Mittelschicht stünde, welche Fratze er ihr verleihen würde. Was Mortier als Komödie beginnen lässt (die durchaus einige unfassbar komische Momente aufbietet), wandelt sich schließlich immer mehr zu Dries’ diabolischen Plan, der einem im Nachhinein nicht wirklich klar werden will. Dafür überschlagen sich am Ende die Ereignisse, ohne eine tiefere Bedeutung zu haben. So ist der Film im Grunde okay in seiner Intention dem Publikum den Spiegel vorzuhalten (ob dies bei jedem funktioniert, ist eine andere Frage), selbst wenn dies nur gelegentlich zu gelingen vermag. Ehrlich gesagt hatte ich mir jedoch nach all dem Tram-Tram im Vorfeld doch etwas Skandalöseres versprochen.

6/10

Salo o le 120 giornate di Sodoma
(Die 120 Tage von Sodom)

Wer Salò nicht einmal in seinem Leben gesehen hat, der hat nicht gelebt, sondern ist vor dem Leben geflohen. „So einfach ist das“, erklärt die Regisseurin Catherine Breillat in einem Interview zu Pier Paolo Pasolinis letztem Film, bevor er unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Eines dürfte unbestritten sein, Salo o le 120 giornate di Sodoma erhitzt die Gemüter. Einige – darunter die australische und zeitweise auch die deutsche Regierung – sehen in dem Film des Italieners reine Pornographie und eine Unzumutbarkeit. Andere, wie der französische Regisseur Bertrand Bonello, sind der Ansicht, der Film sollte aufgrund seines pädagogischen Ansatzes jedem Gymnasiasten gezeigt werden. Schließlich sei es „der wichtigste Film aller Zeiten“. Die Verfilmung eines Romans des Marquis de Sade, zeitversetzt in die Endphase des italienischen Faschismus in Mussolinis Reststaat Salò, erweckt Kontroversen und ruft bei einigen Regisseuren (siehe Breillat und Bonello) diskutierbare Aussagen hervor. Gaspar Noé gestand immerhin ein, dass er bezweifelt, dass man 10-Jährige mit dem Film etwas anfangen können.

Ich wiederum bin mir ziemlich sicher, dass ein 10-Jähriger mit dem Film nichts anfangen kann. Pasolinis Allegorie auf den Faschismus ist in seinen ersten fünfzig Minuten noch sehr zurückhaltend und beginnt dann seine ganzen anarchischen Ausmaße anzunehmen. Der Höllenkreis der Scheiße ist fraglos einer der Momente, die mir persönlich den Magen umgedreht haben. Doch selbst wenn es nicht meine erste Sichtung des Filmes war, bleibt mir bisweilen der Zugang zur Materie verschlossen. Viele Szenen ergeben einen Sinn, doch der Zweck einiger anderer (die in etwa in dieselbe Richtung stoßen), will sich mir bis heute nicht erschließen. „In Saló steht Sexualität für Degeneration, Macht, Vernichtung“, schrieb Otto Schweitzer im Metzler Filmlexikon (S. 556). Das wird deutlich, da Pasolini derartige Szenen mehrfach abspielt. Wieder und wieder, sodass sie bisweilen eintönig werden. Da wird auf den Boden geschissen und die Scheiße gegessen, da werden Nägeln in Essen gesteckt und Menschen gefüttert, da werden Mädchen gezwungen, Beamten ins Gesicht zu pinkeln. Während Bonello hier die explizite Darstellung der Gräuel des Zweiten Weltkrieges sieht, die in schriftlicher Form nie greifbar wären, wirken die Schockmomente Pasolinis auf die Dauer redundant.

Inwiefern Pasolinis Salò als bedeutsam und wichtig angesehen werden kann, entschließt sich meiner Urteilskraft. Auch unabhängig von seinem Film wäre eine ansatzweise Greifbarkeit der Gräuel des Holocaust beziehungsweise Faschismus (die meiner Ansicht nach ohnehin nur von den Opfern und keinem Außenstehenden wirklich greifbar sind) möglich gewesen. Daher ist mir (mal wieder) der Hype um einen Film nicht sonderlich geheuer. Etwaige Analogien, wie dass die Faschisten ihren Opfern ihre Scheiße sprichwörtlich zum Essen vorsetzen, sind vom Ansatz her ganz nett, in ihrer Umsetzung jedoch nahezu unkonsumierbar. Mir selbst ist nicht klar, ob Pasolini hier – ähnlich wie Michael Haneke Jahrzehnte später mit Funny Games – einen Film erschaffen wollte, der den Zuschauer zum Verlassen bewegt. Daher würde ich selbst nicht sagen wollen, dass es ein wichtiger Film ist, sondern „interessant“ trifft es für mich eher. So weit zu gehen, dass man nicht gelebt hat, wenn man nie in den Genuss (sicherlich das falsche Wort für den Film) von Salò gekommen ist, würde ich dann allerdings ohne Frage nicht.

7/10

Eraserhead

Öhem. Ja, gut. Hier weiß ich schwerlich wo ich anfangen soll. Seit der letzten Sichtung hat sich nicht viel geändert, da ich immer noch keine Ahnung habe, worum es in David Lynchs Debütfilm geht. Aber wie es scheint, bin ich nicht alleine damit, denn immerhin hat der Regisseur und Autor selbst gesagt, dass bisher noch niemand die wahre Bedeutung von Eraserhead erkannt hat (zumindest seines Wissens nach). Erzählt wird auf jeden Fall die Geschichte des Druckers Henry (Jack Nance). Dieser erfährt bei einem Abendessen mit seiner Freundin und deren Familie, dass er Vater einer Frühgeburt ist. Gezwungenermaßen heiratet er die Mutter und lässt diese mit dem Kind, einem deformierten Etwas, bei sich einziehen. Als das Wesen nicht aufhört zu schreien, zieht die Mutter zurück zu ihren Eltern und Henry gibt sich seiner eigenen phantastischen Welt hin. Voll von auf Spermien tanzenden pausbackigen Blondinen und missgestalteten Männern in Planeten. Die Interpretationen reichen von einer Wochenbettpsychose über Abtreibung zu einer nuklearen Katastrophe. Wie dem auch sei, Eraserhead zählt zu den Lieblingsfilmen von unter anderem Stanley Kubrick und George Lucas und bescherte Lynch sein Regieengagement für The Elephant Man, nachdem Mel Brooks Lynchs Debütwerk in Augenschein genommen hatte.

Für Lynch-Fans ist sein Erstling fraglos ein Muss, da der Kultregisseur hier bereits etliche Motive seiner späteren Werke wie Blue Velvet oder auch Mulholland Drive mit einbaut. In schwarzweißen Bildern untermalt er seinen Film ausschließlich mit industriellen Geräuschen und präsentiert seinem Publikum eine surreale Geschichte par excellence. Fünf Jahre hatte der Produktionsverlauf gedauert, da Lynch nebenher Zeitungen austragen musste, um das Budget zusammenzukriegen. Inzwischen gilt Eraserhead als Kultfilm, bei vielen Usern der OFDB finden sich etliche „Meisterwerks“-Bekundungen und 10/10-Bewertungen. Worum es geht, weiß niemand. Aber das sieht ja so fucking surreal aus! So gesehen ist David Lynch ein losgelassener Hund. Theoretisch könnte er eine Parkszene drehen, in der nichts passiert, außer das plötzlich ein kleinwüchsiger Plan auf einem Einrad ins Bild fährt, einen Revolver zückt und sich erschießt. Die Fans würden jubeln. Es ist also anzunehmen, dass Lynchs Filme vormerklich Kunstwerke sein wollen, denn wirkliche Filme. Wie dem auch sei, Eraserhead zählt ähnlich wie Zoo zu jenen Werken, zu denen ich keinen Zugang erhalten habe.

Da Lynch einem das Verständnis nicht leichter machen möchte, muss man sich auf seine eigenen Interpretationen verlassen. Daher ergibt sich für mich folgendes Szenario: da die Geburt des Kindes sowohl für Henry als auch für seine Freundin überraschend kam, wird das Kind (das zugleich eine Frühgeburt ist) aufgrund der eigenen Unvorbereitung als „deformiert angesehen“. Mit den Anforderungen an die Elternschaft sind beide Elternteile überfordert, die ohnehin schon stark industrialisierte Welt treibt Henry derart in den „Wahnsinn“, dass er sich in seiner Phantasie nach der Frau in der Heizung sehnt. Als ihm der ganze Stress zuwider wird, mit Albträumen von seinem Kind, das seinen eigenen Platz einnimmt, entledigt er sich des Wesens. Ein interessanter Aspekt ist die „Krankheit“ des Kindes, die Henry kurzzeitig wie einen guten und fürsorglichen Vater dastehen ließ. Somit wäre „Eraserhead“ eine Allegorie auf die unvorbereitete Elternschaft (Lynchs Frau erwartete zu Beginn der Dreharbeiten selbst ihr erstes Kind) - verpackt in Surrealismus. Trotz allem bleibt der Film für mich vormerklich eine Art „Kunstwerk“ und The Elephant Man mein Lieblingswerk von Lynch (da verständlicherweise sein zugänglichstes Werk). C.H., wenn du den Film noch nicht gesehen hast, empfehle ich ihn dir. Und wenn du ihn schon gesehen hast, erleuchte uns respektive mich doch bitte mit einer deiner ausführlichen Analysen.

6.5/10

Ett hål i mitt hjärta (A Hole In My Heart)

Da hatte sich Lukas Moodysson 2004 ne ganze Ecke aus dem Fenster gelehnt, mit seinem experimentellen A Hole In My Heart. Dabei springt einem die Gesellschaftskritik förmlich in jeder Szene an. „Die wollen das doch sehen“, erklärt Rickard (Thorsten Flinck), als er über seinen Amateurporno spricht. Immer schön Löcher stopfen, schließlich sind wir eine Pornogesellschaft. Da geht es nur um Triebbefriedigung, da liegt die Kohle. Deshalb hat sich Tess (Sanna Bråding) auch die Schamlippen entfernen lassen. Damit es besser flutscht und aussieht. Ihre Vaginaloperation scheint dabei aktuelle die letzte einer größeren Anzahl an Verbesserungen zu sein, die sie für ihren Körper vorgenommen hat. Simultan zu ihrer Aufzählung schneidet Moodysson dann Rickards Sohn Eric (Björn Almroth), der Regenwürmer als Haustiere hält. Die sehen normal aus, seien aber alle anders, berichtet er dem Publikum. Damit stehen die Regenwürmer natürlich sinnbildlich für Eric selbst, aber auch Tess, Rickard und dessen Pornokumpel Gecko (Goran Marjanovic).

Da ist es schon zynische Heuchelei, wenn Rickard gegenüber Tess ausruft „Don’t fuck with the nature“, weil diese sich zu oft wäscht und daher ihr Genitalbereich angeblich riecht. Doch obschon sie sich nicht mögen, bleiben die vier doch die meiste Zeit zusammen in ein und derselben Wohnung. Sogar Eric, der sich gar nicht an den Amateurpornos seines Vaters beteiligt. Stattdessen hockt er in seinem Zimmer und hört Noise-Musik, um den Geräuschen aus dem Wohnzimmer zu entgehen. Später wird er sich sogar die Augen mit Pflastern zukleben. Der einzige Grund, der Eric wohl davon abhält dem Treiben nach Draußen zu entgehen, ist wohl seine deformierte rechte Hand. Tess hingegen weiß im Grunde nicht, wo sie anders hin soll. Ein kurzer Ausflug in den Supermarkt raubt ihr fast den Verstand. Alle seien so langweilig, erklärt sie, ehe sie die schlafenden Rickard und Gecko darum bittet, sie mögen sie ficken. Dabei sehnt sich Rickard eigentlich nur nach der Anerkennung von Eric und Gecko versucht seinem Leben einen Sinn zu geben, ehe er (aus unerfindlichen Gründen) ins Gras beißen muss.

Moodysson spielt mit seinem visuellen Inszenierungsstil, lässt die Charaktere mal wie in einer Dokumentation direkt zur Kamera sprechen, dann wiederum wie beim Psychiater Szenen von den Charakteren mit Puppen nachstellen oder macht einen auf Big Brother, wenn er den Pöbel in eine dunkle Kammer steckt, wo sie in die Nachtsichtkamera ihr Innenleben auskotzen. Seine Kommerz- und Konsumkritik bringt der Schwede schließlich auf subversive Weise auch dadurch zum Ausdruck, dass er die Markennamen aller Artikel blurrt und oftmals kitschige Popmusik als Untermalung einspielt. Was in A Hole In My Heart sehr gut beginnt, wandelt sich gegen später dann bedauerlicherweise zum Teil zur Farce, wenn in bester Marco Ferreri Manier eine lüsterne Völlerei dargestellt wird, die natürlich ausarten muss. Erst ein dunkles Geheimnis – vollkommen unangekündigt und irgendwie deplatziert – bringt zu guter Letzt die Wende und beschert den Charakteren so etwas wie Harmonie. Grundsätzlich ein guter Ansatz, der sich dann allerdings verliert.

6.5/10

C’est arrivé près de chez vous (Mann beißt Hund)

Für gewöhnlich beginnt er seinen Monat mit einem Mord an einem Briefträger und gerne regt er sich auch auf, wenn die Stadt afrikanischstämmige Nachtwächter anstellt. „What a dirty trick! So you can’t see him! Who would ever think so low?”, echauffiert sich Benoît in Richtung Kamera. In ihrem Debütfilm inszenierten die drei belgischen Filmstudenten Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde eine bitterböse Mediensatire. Ein dreiköpfiges Kamerateam rund um Regisseur Rémy und Kameramann André begleitet den Serienkiller Benoît bei seinen mörderischen Streifzügen. Was als objektive Dokumentation beginnt artet schließlich zu Mittäterschaft und letztlich sogar zu aktiven Verbrechen der Journalisten aus. Mitten drin: Benoît, ein skrupelloser Mörder, bei dem man dennoch nicht umhin kommt gewisse Sympathien für ihn zu hegen.

Benoît ist ein Chauvinist und Rassist, daran besteht kein Zweifel. Der afrikanischstämmige Wachmann muss prüde gewesen sein, befindet der Mörder. Schließlich habe er, was das Vorurteil bestätigt, ein enormes Glied gehabt und sich dennoch nicht prostituiert, wie es dieses „Volk“ für gewöhnlich macht. In selber Szene zeigt Benoît allerdings gleichzeitig eine gehörige Portion Respekt, wenn er von zwei Arabern erzählt, die er irgendwann mal in eine Mauer einbetoniert hat. „Facing Mecca, of course”, erklärt er. Seine Morde sind nicht politisch motiviert, er ist kein Triebtäter. Ähnlich sieht es auch seine Freundin Valerie. „Everyone’s got to eat“, ist ihr einziger Kommentar zu Benoîts Beruf. Dieser ist sich auch nicht zu schade, seine Beutezüge hinterher mit Rémy, André und dem aktuellen Tontechniker zu teilen. Der Beginn für den Niedergang des Dokumentationsteams, das spätestens hier vom Beobachter zum Teilnehmer wechselt.

Sie alle waren sich der Gefahr bewusst, erklärt Regisseur Rémy als Patrick, der erste Tonmann, an einem Drehtag erschossen wird. Besonders traurig ist dieser Augenblick, weil Patrick eben erst mit seiner Verlobten Marie-Paule zusammengezogen ist. Die obendrein noch schwanger von ihm war. Auch der zweite Tonmann, Franco, überlebt sein Engagement nicht lange. Aber Rémy ist sich sicher, dass Franco gewollt hätte, dass sie weiterdrehen. Weshalb er diesem kurzerhand den Film widmet, auch hinsichtlich der Tatsache, dass Franco gerade erst mit seiner Freundin zusammengezogen ist. Die Marie-Paule heißt. Und die ein Kind von ihm erwartet. Es gelingt Belvaux, Bonzel und Poelvoorde unzählige schreiend komische Momente zu erschaffen, die in ihrer Natur abstoßend sind, jedoch von Poelvoorde dermaßen genial rüber gebracht werden, dass man nicht anders kann als lachen. Das brillant geschriebene Drehbuch ist hierbei neben der Medienkritik gespickt mit dutzenden grandiosen Szenen. Als Benoît während einer Verfolgungsjagd sein Kommunionsarmband verliert, ist er betrübt. Immerhin hat es ewig gedauert dieses zu stehlen, da er erstmal einen Jungen finden musste, der dieselben Initialen hatte wie er selbst.

Halten sich Rémy und die anderen zu Beginn noch so gut wie möglich von Benoît fern – sie lehnen es ab mit ihm nach einem Mord gemeinsam an die Küste zum Muscheln essen zu fahren -, so werden sie letztlich zu Komplizen. Sie helfen Leichen beseitigen, halten Kinder fest, die Benoît umbringt und beteiligen sich an Weihnachten schließlich sogar an einer Gruppenvergewaltigung eines Einwandererpärchens. In ihrer journalistischen Tätigkeit versagen sie also, wenn sie stets nach der besten Story aus sind. Der so genannten Mann-beißt-Hund-Geschichte, die einen Ruhm bescheren kann. Wie sehr die Medien bereit sind Grenzen zu überschreiten, verdeutlicht eine Szene, in der Benoît und die anderen bei einer Hetzjagd auf ein anderes Kamerateam treffen, welches dieselben Intentionen besitzt. Mit C’est arrivé près de chez vous ist dem belgischen Trio ein außerordentlicher Film gelungen. Bezeichnend, dass Poelvoordes Familie sich im Film selbst spielt, ohne zu wissen, worum es geht. Die Authentizität der Darsteller ist somit gesichert. Traurig, dass Regisseur Belveaux sich vor drei Jahren das Leben nahm. Denn dies ist wahrscheinlich der schwarzhumorigste Film, den ich je gesehen habe. Prädikat: Besonders Wertvoll.

10/10

17 Kommentare:

  1. Ahh, das muß ich mir mal alles in Ruhe durchlesen. Sieht aber schon mal gut aus.;)

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  2. C.H., wenn du den Film noch nicht gesehen hast, empfehle ich ihn dir. Und wenn du ihn schon gesehen hast, erleuchte uns respektive mich doch bitte mit einer deiner ausführlichen Analysen.

    HAHA... :D Ne, hab den noch nicht gesehen. Kommt aber bestimmt noch, und dann werd ich auch was schreiben... ;-)

    Wobei ich sagen muss, dass sich ziemlich viele der Filme, die du (gar nicht mal so kurz) besprochen hast, mich interessieren würden. Bis auf "Oldboy" habe ich nämlich noch keinen von denen gesehen. ;-)

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  3. "Mann beißt Hunde" ist super - die anderen kenne ich gar nicht...

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  4. Salo ist halt ein sehr persönlicher Film Pasolinis, den man wahrscheinlich erst nach einem ausgiebigen Studium des italienischen Faschismus und Pasolinis Biographie näher kommen kann. Nein, muß man wahrlich nicht gesehen haben.

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  5. Was für ein Filmmarathon! Dass du da noch ruhig schlafen kannst...
    Anyway.
    Oldboy würde ich wohl ca. 0,5 Punkte mehr geben und den Mr. Vengeance ziehe ich der Lady Vengeance jederzeit vor. Beide fallen im Direktvergleich zu Oldboy, aber auch zu Joint Security Area massiv ab. Gerade bei der Lady hat sich der Herr Park zu sehr in seinen visuellen Gaukelspielchen verloren. Schade eigentlich bei der (wie du schon richtig geschrieben hast) super Hauptdarstellerin. Und an welchen Film wird man sich noch in 20 Jahren erinnern? Oldboy oder den Michael Moore-Müll? Diese Festivals und ihre politisch motivierten Entscheidungen... :(

    Eraserhead schauen ist dagegen in etwa wie wenn jemand einem bei vollem Bewusstsein ein Loch in den Schädel bohrt und das Aspirin ist alle. Ganz große, äh, Unterhaltung. Glaube kaum, dass man zu dem Film überhaupt einen Zugang haben kann/soll.

    A Hole in My Heart hat mich beim Videoabend einfach nur genervt. Vielleicht wäre Road Trip da die bessere Wahl gewesen. ^^
    Schlussendlich muss ich zugeben, dass Irreversible und Salo bei mir seit einer Weile ungesehen herumliegen. Sind ja auch nicht gerade feel good movies.
    Mann beißt Hund muss ich hingegen endlich mal schauen, klingt ja vielversprechend, was du darüber geschrieben hast.

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  6. ber wie es scheint, bin ich nicht alleine damit, denn immerhin hat der Regisseur und Autor selbst gesagt, dass bisher noch niemand die wahre Bedeutung von Eraserhead erkannt hat (zumindest seines Wissens nach).

    Ich will das auch hier nochmal anführen, weil ich auch wissen will, wie die anderen denken.

    Wie ich Dir schon sagte, ist solch eine Aussage ja totaler Nonsens, denn nur weil man einen Film anders liest wie der Autor bzw. ihn anders interpretiert muss das ja nicht heißen, dass man falsch liegt bzw. es nur eine einzige Interpretation gibt. Wenn man bei der Aussage des Autors halten würde, wäre Film oder allgmein Kunst ja wertlos. Naja, für mich zeigt es nur, dass Lynch ein ganz großer Spast ist ... ;-)

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  7. endlich endlich lang gewartet und endlich ist es da dein review zu den kontrovers-filmchen.

    eraserhead:
    ach das ist einfach mein lieblingsfilm. ein solch verstörter und angst machender film gibts nicht noch einmal. es ist ein auf die leinwand gebrachter alptraum!
    find ich sehr göttlich den film, obwohl film der falsche ausdruck ist, weil es sich hier unübersehbar um kunst handelt. ob man den film nun "richtig" interpretieren kann oder nicht, ist denke ich, völlig zweitrangig, weil der film uns auf eine surreale reise mitnimmt. und kann man überhaupt etwas falsch interpretieren? bei kunst ist es ja genauso, jeder hat seine ganz eigene interpretation und das ist ja auch das schöne. aber deine interpretation fonde ich sehr passend-schön!

    menschenfeind:
    oh jeh oh jeh da werden wir uns wohl nicht einig bei dem film ;-) für mich ist gaspar noe einfach der grossartigste regisseur.
    menschenfeind beeindruckt mich immer noch so sehr wie beim ersten anschauen. habe den film nun bestimmt schon 5-7mal gesehen. es ist ein sehr aggressiver und radikaler film, der aber, meiner meinung nach, auch durch die "schönen" aufnahmen überzeugt. gaspar noe hat bei den dreharbeiten eine spezielle alte kamera benutzt (aber keine ahnung wie die heisst :-) ) und ich finde dies bringt eine ganz besondere atmosphäre rüber. schwer zu beschreiben. wie ein altes kassettentape;-). menschenfeind gefällt mir persönlich sogar etwas besser als irreversibel, auch wenn nur ein kleines bisschen. ich kann aber bei dem film durchaus verstehen, wenn man ihn nicht mag.

    120 tage von sodom:
    fonde ich auch eher ernüchtern und enttäuschend, weil im vorfeld so viel über den film gesagt und erzählt wurde, aber dann dies doch nicht so ganz erfüllen konnte. auch wenn ich ihn durchaus sehenswert finde, weil er nichts übertreibt und nur die realität zeigt und dies völlig kalt.

    man bites dog:
    ohne frage einer der lustigsten filme, die ich je gesehen hab. ganz ganz gross!

    tzametis:
    warum man von dem film unbedingt eine neuauflage braucht ist mir völlig schleierhaft. bei dem film passt von vorne bis hinten einfach alles. wozu farbe, wenn schwarz-weiss die stmmung und atmosphäre noch verstärken. wenn böse zungen behaupten ein kurzfilm wäre besser gewesen. dies finde ich aber überhaupt nicht. vorallem die pausen zwischen den duellen brauchen diese länge. hab ich leider bisher nur einmal gesehen, muss ich mir aber bald nochmal anschauen.

    zoo:
    im vorfeld hab ich von dem film was völlig anderes erwartet, was dann eigentlich gezeigt wurde und das fonde ich das beeindruckende an dem film, dass man an menschen rangehen kann ohne vorurteile, obwohl diese menschen, in meinen augen, einfach krank sind. nochmal ansehen muss ich ihn mir nicht, weil ich ja jetzt weiss was mich erwartet. aber die aufnahmen der landschaften ist einfach atemberaubend. einfach schön!

    a hole in my heart:
    ein sehr sozial kritischer film, der auf den konsumwahnsinn des menschen eingeht. der film hat aufjedenfall sehr gute ansätze. hab ihn leider lang nicht mehr gesehen, aber ich weiss als ich ihn das erste mal sah, fond ich ihn grandios. vorallem als die gruppe "a-teens" kurz eingespielt wird, fond ich eine sehr sehr starke szene.

    oldboy:
    will smith?!?!?steven spielberg?!?!? HAHHAHAHAH!
    kultfilm!mehr gibts dazu nicht zu sagen!!!!!
    interessant zu wissen: der hauptdarsteller ist eigentlich im echten leben strikter vegetarier, hat aber bei der szene im restaurant einen echten lebendigen tintenfisch gegessen..hahha die asiaten heheh die kennen da nix

    exdrummer:
    mhmmm ja kann man mal schauen, ist mir jetzt aber kein film, der mir für immer im gedächtnis bleibt.



    jetzt musst du nur mal noch subsconscious cruelty kommentieren hahahhahahhaha

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  8. Stimme mit keiner einzigen Bewertung überein.

    Zu SALO:

    Das wird deutlich, da Pasolini derartige Szenen mehrfach abspielt. Wieder und wieder, sodass sie bisweilen eintönig werden.

    Gerade das ist gewollt. Dem Film also "Redundanz" zu unterstellen ist wie zu sagen: Bäh, der wurde ja auf Zelluloid gedreht, das mag ich nicht.

    Aber wenigstens gibst du ja zu, dass sich dir vieles nicht erschlossen habe. Immerhin.

    Hauptsache so einen menschenverachtenden Mistfilm und Möchtegern-SALO wie IRREVERSIBLE höher bewerten.

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  9. laut dem zeitverschwender sei dies zusätzlich [oder ausschließlich] eine Metapher für die Fast Food Industrie),

    Ach, das hatte ich überlesen. Es ist keines Wegs meine eigene Auffassung, sondern soll Pasolinis eigene sein. Ich finde aber verdammt noch mal den Link zum Text nicht mehr. Stammt aus einem Begleittext zum Film.

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  10. wenn böse zungen behaupten ein kurzfilm wäre besser gewesen

    Pass du mal auf, dass die Anni das nicht lies ;-)

    jetzt musst du nur mal noch subsconscious cruelty kommentieren

    An den hab ich gar nicht gedacht. Aber der Regisseur gehört eh eingesperrt, eingesperrt gehört er!

    interessant zu wissen: der hauptdarsteller ist eigentlich im echten leben strikter vegetarier, hat aber bei der szene im restaurant einen echten lebendigen tintenfisch gegessen

    Noch interessanter ist zu wissen, dass er insgesamt vier Stück essen musste, weil die Szene wiederholt wurde. Ja, da schaust jetzt.

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  11. Es ist keines Wegs meine eigene Auffassung, sondern soll Pasolinis eigene sein.

    Das hast du falsch verstanden, ich meinte es durchaus so, wie du es gemeint hast. Dass du lediglich die Information weitergetragen hast. :)

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  12. Jetzt ist auch klar, warum diese lockere Oscar-Show so scheisse fandest. :-D

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  13. @Hirngabel: Richtig. Zu wenig Blut. Zu wenig Gewalt. Do want Charles Manson als Host *g*

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  14. Ja wir Beide wissen das, ich habe das auch durchaus so verstanden. Wollte es nur noch mal nach dem zweiten durchlesen untermauern.;)

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  15. Ich kann so gut wie keinen Satz und keine Bewertung mit dir teilen. Vor allem zu ERASERHEAD und IRREVERSIBLE (dessen erste halbe Stunde mich "verrückt" und rasend gemacht hat) hab ich eine gänzlich andere Meinung.

    MAN BITES DOG muss ich endlich mal sehen.

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  16. Da sind aber auch Filme dabei, die nicht in der Kino Kontrovers Reihe erschienen sind. Das kann z.T. verwirrend sein, da Filme aufgelistet sind, die nichts mit der tatsächlichen Reihe zu tun haben.

    Die richtige Liste lautet:

    1) Menschenfeind
    2) Irreversible
    3) A Hole in my Heart
    4) Die 120 Tage von Sodom
    5) Ken Park
    6) Santa Sangre
    7) Ex Drummer
    8) Zoo
    9) Ich bin neugierig - Gelb / Blau
    10) Twentynine Palms

    Quelle: http://www.hirnfick-filme.net/content/view/13/30

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  17. @Thomas Riedener: Ich weiß, deswegen hab ich ja auch das "kontrovers" klein geschrieben ;-) Es ging hier hauptsächlich um Filme, zu denen man kontrovers stehen kann. Dass hier sechs Filme tatsächlich aus der Kino Kontrovers Reihe entstammen, war eher ein Bonbon.

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