13. Dezember 2009

Where the Wild Things Are

Will you keep out all the sadness?

Fast auf den Tag genau 13 Monate ist es her, seit das erste Bild von Where the Wild Things Are erschien. Meine Worte damals lauteten: „Weniger die Umsetzung (...) als vielmehr das Einfügen einer Handlung dürfte hier ein Problem darstellen.“ Und dies sollte sich bewahrheiten. Denn in gewisser Hinsicht war und ist Maurice Sendaks berühmtestes Kinderbuch perfekt. 18 Bilder, 10 Sätze und 338 Wörter brauchte Sendak, um seine Geschichte von Max und dem Land, wo die Wilden Kerle wohnen, zu erzählen. Max, ein Kind mit Anflügen von ADS, wird ohne Essen auf sein Zimmer geschickt und träumt sich dort in eine phantastische Welt. Mit fortschreitender Phantasie vergrößerte Sendak die jeweiligen Bildrahmen, bis schließlich das ganze Bild von seiner Zeichnung eingenommen wird und jeglicher Text fehlt. Über 19 Millionen Exemplare konnten seit 1963 von Where the Wild Things Are verkauft werden. Und dennoch war eine Verfilmung erst Anfang der achtziger Jahre im Gespräch.

Disney, rund um John Lasseter, hatte damals Versuche unternommen, Sendaks beliebte Kindergeschichte als Animationsfilm umzusetzen. Die Adaption der ersten beiden Szenen findet man auf YouTube. Doch das Projekt wurde ebenso wie eine Realverfilmung in den Neunzigern verworfen. Richtig Form nahm Where the Wild Things Are erst Anfang des aktuellen Jahrzehnts an, als Spike Jonze Interesse anmeldete. Vor vier Jahren begannen dann intensivere Planungen und sollten fast zum Scheitern verurteilt sein. Zuerst gab es Probleme mit den Kostümen der Wilden Kerle, dann war Warner Bros. verschreckt von der scheinbaren Familienuntauglichkeit des fertigen Produkts. Die Verantwortlichen wollten das 75-Millionen-Dollar-Projekt neu drehen lassen, entschieden sich dann aber dafür, Jonze es für weitere 25 Millionen Dollar stattdessen familienfreundlicher gestalten zu lassen. Nachdem der erste Trailer, auch dank „Wake Up“ von Arcade Fire, viel versprechend aussah, bewahrheitet sich mit Where the Wild Things Are meine Äußerung von vor 13 Monaten. Während der Look durchaus überzeugt, stellt die Integration einer Handlung ein leichtes Problem dar.

In der Adaption von Dave Eggers, bisher – oder chronologisch korrekt: seitdem – verantwortlich für das Drehbuch von Sam Mendes’ Away We Go, verkommt der achtjährige Max (Max Records) nun zum Scheidungskind. Sich seiner Phantasie hingebend, lebt seine ältere Schwester Claire inzwischen ihr eigenes Leben. Und auch seine Mutter (Catherine Keener) hat keine Zeit und Lust unentwegt mit ihrem Sohn zu spielen. Schließlich verlangt es den neuen Freund (Mark Ruffalo) auch ein wenig nach Aufmerksamkeit. Max wiederum fehlt jene Aufmerksamkeit, er überstrapaziert die Nerven seiner Mutter als er sie beißt („I’ll eat you up!“) und flieht letztlich in die nächtliche Nachbarschaft. Wo in der Vorlage eine mütterliche Strafe für ungebührliches Verhalten der Initiator für Max’ sprichwörtlich ausufernde Phantasie ist, verorten Eggers und Jonze ihre Geschichte als Flucht vor der Patchworkfamilie. Die im Folgenden zur Ankunft in einer weiteren Patchworkfamilie führt. Auf einer Insel strandend trifft Max schließlich die Wilden Kerle rund um ihren inoffiziellen Anführer Carol (James Gandolfini). Und wie sich herausstellt, ist auch da wo die Wilden Kerle wohnen, Einiges im Argen.

Mit dem Auftritt der Wilden Kerle löst sich Where the Wild Things Are dann von Sendaks Vorlage. Von seiner Mutter selbst als wild thing gebrandmarkt, trifft Max bei Sendak auf andere Wilde Kerle, die ihn schließlich anerkennend zu ihrem König wählen. Nach einer chaotischen Nacht („Let the wild rumpus start!“) ergreift Max jedoch das Heimweh. Der Film beschreitet andere Wege, will tiefschürfender sein und verliert sich etwas auf der Suche nach (s)einer Botschaft. Von Wilden Kerlen ist hier, Carol (meist) ausgenommen, keine Spur. Stattdessen erwarten Max teils apatische, teils depressive Spielgesellen, die sich vom neuen König erhoffen, von ihrer Melancholie befreit zu werden. Um sie auseinander zu halten, vergaben Jonze und Eggers ihnen nicht nur Namen, sondern auch Persönlichkeiten. Wobei es sich im Grunde nur um eine Persönlichkeit handelt, nämlich die von Max. Und mit einigen seiner Facetten sieht sich der Achtjährige lieber nicht konfrontiert.

Zur Identifikationsfigur wird der ungestüme Carol auserkoren, der über den Zustand seiner eigenen Familie so wütend ist, dass er wie ein Berserker durch ihr Zuhause stürmt. Seine Gefühlswelt beschreibt er später Max gegenüber als Gebiss, in dem im Alter die Zähne immer weiter auseinander stehen und letztlich ausfallen. Nichts ist mehr so wie früher, will doch keiner mehr wild herumtollen und auch KW (Lauren Ambrose) hat kaum noch Interesse an Carols Spieltrieb. Es sind diese Beiden, die an Max ihr Herz verlieren werden und vice versa. Mit dem meist abwesenden Daniel, der lieber für sich allein ist, und dem von der Gruppe vernachlässigten Alexander (Paul Dano) hat Max dagegen weniger zu tun. Als Spiegelbilder seiner selbst zählen sie, wie auch die mies gelaunte Judith (Catherine O’Hara), zu den Facetten, die er lieber verdrängen möchte. Aber der Zustand der Wilden Kerle offenbart, dass Max vor seinen Problemen mit seiner Familie nicht davon laufen kann. Insofern bemühen Eggers und Jonze hier sehr offensichtlich eine Katharsis ihres Helden.

Wo Sendak sich auf die Botschaft der mütterlichen Liebe beschränkt – Max kehrt nach Hause zurück und findet dort doch noch sein Abendessen vor -, versieht der Film Max mit einem Konflikt, den es zu lösen gilt. Wenn auch nur mit sich selbst. Erst die Position des quasi Außenstehenden bei den Wilden Kerlen sorgt dafür, dass er begreift wie unglücklich alle unter diesen Voraussetzungen sind. Insofern will er „no longer let his anger separate him from those whom he loves and who love him“, wie es Elizabeth Kennedy ausdrückte. Interpretiert man Sendaks Werk primär aus diesem Blickwinkel, wird der Film der Vorlage durchaus gerecht. Doch die Projizierung von Max auf alle sieben „Wild Things“ will nicht immer vollends überzeugen. Schon allein deshalb, da es wie erwähnt weniger Wilde Kerle als vielmehr manisch-depressive Kerle sind, die man aufgetischt bekommt. Auch die Katharsis von Max wirkt relativ halbgar, da er nicht ein Mal seine Phantasiewelt gebacken bekommt und diese immerhin eine vereinfachte Version seiner Realität darstellt. Ingesamt wirkt Jonzes Adaption vom sozialpsychologischen Standpunkt her somit leicht überfrachtet, weshalb auch die hinzugefügte Handlung nur bedingt überzeugen will.

Von der technischen Umsetzung her ist Where the Wild Things Are jedoch ausgesprochen gelungen. Die digitalisierten Gesichter auf den realen Kostümen synthetisieren gut und es schadet den Wilden Kerlen nur, wenn Jonze sie durch die Luft springen lässt. Hier wirken die Bewegungen nun wenig natürlich, was aber ob der geringen Präsenz an Sprüngen annehmbar ist. Ein besonderer Trumpf ist jedoch der Soundtrack von Karen O, der unentwegt jenes phantastische Gefühl zu transportieren weiß, das Sendaks Geschichte innewohnt. Und während sich Records erstaunlich gut schlägt, zwischen all den Riesenkostümen, sind es speziell Gandolfini und Dano, deren Stimmen besonders gut gewählt scheinen. Somit ist Where the Wild Things Are vielleicht kein Meisterwerk, aber trotzdem – und gerade in seinen letzten Minuten – ein teils wunderschöner und ergreifender Film geworden. „L.O.V.E., it’s a mystery“, singt Karen O schließlich im Abspann und es verabschiedet sich mit Spike Jonze nach vier Jahren Arbeit der wahre König der Wilden Kerle.

7/10

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