6. Februar 2008

Into the Wild

Wind in my hair, I feel part of everywhere.
(Eddie Vedder - “Guaranteed")

Wer kennt sie nicht, die 68er Generation, rund um Rockmusik und Rebellion, Aufstand gegen das Altbewährte und für das Neue. Eines dieser Gesichter in Deutschland war Rudi Duttschke, stehend für eine junge Generation mit Zug zur Freiheit. Ein Film begleitete jahrelang dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit: Easy Rider, unter der Regie von Dennis Hopper 1969 in die amerikanischen Kinos gebracht. Zwei Männer, zwei Motorräder und die weite Leere der amerikanischen Straßen vor sich, dabei von einem Drogenrausch in den nächsten düsend. „Wir sehnen uns nach der absoluten Freiheit, und der Weg dorthin führt immer gen Westen“, schrieb einst Wallace Stegner und spricht damit dem Ur-Instinkt eines jeden Lebewesens aus der Seele.

Freiheit. Was Hopper seiner Zeit gemäß als Drogenrausch und Widersetzung gegen das Establishment inszenierte, ist heute nur noch im Kontext seiner Zeit begreifbar, identifizieren kann man sich damit nicht mehr. Das ändert jedoch nichts am menschlichen Wunsch nach Freiheit, ist in den meisten Ländern wie Deutschland doch eine Gefängnisstrafe die höchste Bestrafung die jemand drohen kann, der gegen die Gesetze seiner Gesellschaft verstößt. Wer sich nicht fügt, der büßt seine Freiheit ein und um diese zu wahren, muss man nach den Regeln spielen. Es ergibt sich von selbst, dass das, was dem Otto-Normalbürger als Freiheit vorkommt, nichts weiteres ist, als ein weiteres, selbstauferlegtes Gefängnis. Dahingestellt ob Gesetze gut oder schlecht sind, gibt jeder Bürger und jede Bürgerin einen Teil seiner beziehungsweise ihrer Freiheit auf innerhalb einer sozialen Gesellschaft.

Sommer 1990: der 22-jährige Christopher McCandless (Emile Hirsch) hat seinen Universitätsabschluss in Politik gemacht und spielt mit dem Gedanken an ein Jurastudium in Harvard. Doch dazu kommt es nicht, denn der junge Mann, der jahrelang mit seiner Schwester unter den elterlichen Streitereien und einem dunklen Familiengeheimnis litt, hat seinen eigenen Plan gefasst. Seine Ersparnisse von $24.000 spendet er wohltätigen Zwecken, alle seine Ausweise und Papiere vernichtet er. Gegenüber seinen Eltern verliert er kein Wort, wohlwissend, dass diese ihn niemals unterstützen würden – zu spießig sind sie. Auch sein Auto verliert Chris bald und an einer Raststätte lässt er sogar seine alte Identität zurück. Fortan nennt er sich Alexander Supertramp und lebt von dem Inhalt seines Rucksacks, schläft in einem Campingzelt.

Sein Ziel ist Alaska, wo er mehrere Monate frei in der Wildnis leben will, fernab von der verrotteten Gesellschaft, in der jeder Mensch sich nur Böse verhält. Auf seiner Reise begegnet Chris immer wieder verschiedenen Personen: wie Wayne (Vince Vaughn), einem vom FBI-gesuchten Farmer, zwei flippigen Dänen oder dem Alt-Hippie-Pärchen und vermutlichen 68ern Jan (Catherine Keener) und Rayne (Brian Dierker). Über Mexiko gelangt Chris nach Kalifornien und schließlich gen Norden, an die Grenze der USA. Zu allen seinen Bekanntschaften wie Wayne, Jan, dem Trailer-Park-Girl Tracy (Kristen Stewart) oder dem verwitweten Ex-Soldaten Ray (Hal Halbrook) entwickelt Chris enge zwischenmenschliche Beziehung, dennoch ist er bestrebt, seiner Reise nach Alaska keinen Einhalt zu gewähren.

Die Geschichte von Christopher McCandless erzählt wahre Begebenheiten. Am 18. August 1992 wurde er tot in einem alten Bus mitten in der Wildnis gefunden. Vollkommen abgemagert sowie einen leeren Fünf-Kilo-Reissack und ein Jagdgewehr neben sich. Die genaue Todesursache ist bis heute ungeklärt, der Journalist Jon Krakauer, der die Erlebnisse des Twen 1993 in einem Artikel im Outside Magazin und drei Jahre später in dem Roman Into the Wild verarbeitete, sieht eine Vergiftung von Pflanzensamen als Todesursache. Sean Penn sicherte sich die Rechte an Krakauers Roman und verarbeitet den Stoff in seiner vierten Regiearbeit. Bis in die Nebenrollen namhaft besetzt und mit einem Soundtrack von Pearl Jams-Frontmann Eddie Vedder ausgestattet, orientierte sich der Film an Krakauers Roman sowie an Interviews mit den Personen, denen Chris auf seiner Reise begegnete.

Wie alle von Penns Filmen zeichnet sich auch Into the Wild vor allem durch seine Bildstärke aus. Chris’ Reise wird von dem Regisseur mit vielen großartigen Landschaftsaufnahmen porträtiert, die allesamt an den Originalschauplätzen stattgefunden haben. Die ganze Schönheit Alaskas oder der Felder South Dakotas, die Chris selbst wahrgenommen haben dürfte, transferiert Penn nunmehr auf die Leinwand. Unterstützt wird dieses Gefühl bildhafter Freiheit von einem entsprechend gelungenen Soundtrack Vedders. Zudem haben sich Penn und Francine Maisler selbst übertroffen, denn es gelingt dem Schauspielensemble erschreckend authentisch, die Tiefe der zwischenmenschlichen Beziehungen darzustellen – besonders in den Szenen zwischen Hirsch und Halbrook, dessen Oscarnominierung konsequent war.

Bilder, Musik und Darstellung bilden hier eine fast perfekte Symbiose, die kaum Wünsche offen lässt. Ein schöner Moment zeigt wie Chris in Los Angeles eintrifft, sich in einem Obdachlosenheim einquartiert und dann durch die Strassen wandert. Als er jedoch die von der Gesellschaft eingepferchten Menschen sieht, in ihren Anzügen und gegelten Haaren, eilt er zurück und zieht schnell weiter. Denn in der Stadt scheint Freiheit nicht möglich. Um wahrhaft frei zu sein, muss er zu den Wurzeln des Menschen zurückkehren – zurück in die Wildnis. Chris hat afrikanische Gesellschaftspolitik studiert, sich also damit beschäftigt, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen (können). Die Schuld schreibt er der Zivilisation zu und daher will er fern von dieser sein. Fern von Ausweisen, Anträgen oder einem Geldsystem.

Wirklich frei lebt Chris dabei jedoch nicht, stets muss er Gelegenheitsjobs übernehmen, um seine Reise zu finanzieren. Interessanterweise kann er sich auch bis zu seinem Tod nicht von seiner Uhr trennen, dem letzten Relikt seines Gefangenendaseins. Vielleicht ist dies auch der letzte Rettungsanker vor der Verwahrlosung, von Geld selbst und Einzäunung hält der junge Uniabsolvent jedoch rein gar nichts. Als er einen Fluss mit einem Kajak hinunterfahren will, reagiert er mit Unglauben als der Park-Ranger nicht nur $2.000 dafür verlangt, sondern ihn auch noch auf eine 12-jährige Warteliste setzt – all das, um einen Fluss hinunterzufahren, der an sich niemandem gehört und jedem frei zur Verfügung stehen müsste, sodass Chris dann auch auf eigene Faust ins Kajak steigt und ohne Lizenz gen Mexiko padelt.

Es spricht für sich, dass Chris während seiner zweijährigen Reise nur freundliche Menschen trifft. So gesehen hat Chris seinen Wunsch von Freiheit ausgelebt, wohl in der heutzutage reinstmöglichen Form – denn als er in Alaska auf sich selbst gestellt ist, versagt er an seinen Fehlern. Die schlimmste Tragödie seines Lebens wird das Schießen eines Elches sein, den er nicht vor den Fliegen retten kann und dessen Tod somit vergeudet wurde. Auch dies eine sehr starke Szene. Penn interpretiert Krakauers Gedanken zu Chris’ Tod nochmals eindringlicher und lässt diesen schließlich aus einem Leichtsinnsfehler des jungen Mannes resultieren. Gegen Ende ist der einst gesunde junge Mann nur noch ein Skelett und Schatten seiner selbst. In der Einsamkeit der Wälder Alaskas seine letzte Erkenntnis findend.

Penn gelingt es, diese Wanderung einer verstörten Seele mit brillanten Bildern einzufangen, verschiedene atemberaubende landschaftliche Großaufnahmen unterstützen dieses in gewissem Sinne spirituelle Road-Movie, ohne in Kitsch abzugleiten. Dabei werden die gut zweieinhalb Stunden spielend überbrückt und im Gegensatz zu Easy Rider wird kein Freiheitsbild einer Generation gezeigt, eher ein allgemein-verständlicher Ansatz eines durch und durch menschlichen Gefühles dargestellt. Als Pünktchen auf dem I gelingt es Sean Penn dann schließlich noch, seinem Film diesen gewissen Hauch von Magie beizusteuern. Into the Wild ist ein ganz besonderer Film über einen ganz besonderen Menschen und eine ganz besondere Tat.

9/10

3 Kommentare:

  1. Und ich beiße mir jetzt seit ungefähr einer Woche konstant in den Hintern, nachdem aus Deutschland die jubelnden Kritiken sich nahezu überschlagen und ich diesen Film hier in England im Oktober einfach so an mir habe vorbeiziehen lassen; er wurde aber auch praktisch gar nicht beworben, den konnte man wirklich nur zu leicht übersehen.

    Ich beiße dann mal weiter.

    AntwortenLöschen
  2. Hier wird er ja auch nicht wirklich beworben. Manchmal muss man halt einfach Glück haben, um sich nicht den Arsch anknabbern zu müssen. =)

    @Rudi

    Absolute Zustimmung zu deiner Eloge! Der Film illustriert diese "Ur-Sehnsucht", die mehr oder weniger ausgeprägt in allen Menschen vorhanden ist, einfach perfekt und Penn bleibt dabei so herrlich unprätentiös und angenehm kitschfrei (ohne dabei auf ein wenig Pathos zu verzichten), dass man den Film eigentlich einfach mögen muss. Vor allem ist er ein sehr aufrichtiger und authentischer Film, den ich persönlich einfach nur ehrlich fand.

    AntwortenLöschen
  3. Da bin ich jetzt aber mal gespannt. Aber ins Kino werd ich trotzdem nicht gehn. Der Februar hält schon genug Filme bereit, die ich sehen will.

    AntwortenLöschen