20. Juli 2010

Heathers

Dear diary, my teen-angst bullshit has a body count.

Nach Erscheinen von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther 1774 animierte die schwermütige Sturm-und-Drang-Erzählung etliche junge Menschen, es ihrem literarischen Vorbild gleichzutun, und den Freitod zu wählen. Es war die hoffnungslose Liebe, die den grüblerischen Werther in den Selbstmord stürzte. Aufgrund jenes Werther-Effektes wurde Goethes Werk schließlich auch kritisch betrachtet. Suizid geschieht folglich oft aus Verzweiflung heraus, sei es in Liebesfragen oder wie in den USA bei MySpace-„Josh“ oder in Japan hinsichtlich „Ijime“ aus Mobbing-Gründen. Die Schule kann ein hartes Pflaster sein, primär natürlich für die so genannten „Schwächeren“: Nerds, Geeks, Übergewichtige - Außenseiter eben. Sie tauchen in jedem High-School-Film auf, meist als die Gewinner am Ende, beispielsweise in 10 Things I Hate About You oder Sixteen Candles. Die Unterdrücker, meist jocks und cheerleader, erhalten hier ihre Schrankenweisung. In Michael Lehmanns Debütfilm Heathers fällt diese weitaus gravierender und endgültiger aus - und resultierte in einem Kultfilm.

Der Film erzählt vom traditionellen Klassensystem der amerikanischen High School. Hier die Schönen und Reichen, dort die begehrten Football-Spieler und irgendwo abseits dann der nerdige Geek-„Abschaum“. Inmitten dieses Szenarios wird nun Veronica (Winona Ryder) platziert, eine rehäugige, schwarzhaarige Schönheit, lustvolles Sexobjekt der Footballer, lose befreundet mit manchem „Sozialabschaum“ und Mitglied der populären Mädchenclique „Heathers“. Eine Pluralisierung des Vornamens dreier Schülerinnen, die wie ein Wolfsrudel hierarchisch aufgebaut, der restlichen Schülerschaft dabei zugleich Dorn im Auge und bewundernswertes Vorbild sind. Einen Wandel erfährt dieses System erst, als der neue Schüler Jason „J.D.“ Dean (Christian Slater) an die Schule kommt und Veronicas Aufmerksamkeit erregt. Eine Auseinandersetzung nach einer missglückten College-Party führt zur Entzweiung von Veronica und „Heathers“-Anführerin Heather Chandler (Kim Walker). Mit fatalen Folgen für die gesamte Schule.

Eine spontane Scherzaktion wird durch J.D.’s Intervention zum Mord. Spätestens hier verdeutlicht sich Veronicas Status als Mitschwimmerin der „Heathers“. Auf J.D.’s erste Frage, ob sie eine „Heather“ sei, hatte sie noch bestimmt geantwortet: „No, I’m a Veronica“. Charakteristisch auch ihre spätere Entgegnung, als sie nach Heather Chandlers Tod schockiert realisiert „I just killed my best friend“. J.D.’s Anmerkung „And your worst enemy“ entgegnet sie mit demaskierender Knappheit: „Same difference“. Freund und Feind liegen auf der High School nah beieinander, im Kampf um Gunst und Anerkennung der Mitschüler. Exemplarisch vorgeführt an Heather Duke (Shannen Doherty), Gamma-Mädchen der einstigen Clique, dass den neu entstandenen Raum zuerst freizügig nutzt, um diesen später - auf Veranlassung von J.D. - vollends als neue Rudelführerin auszufüllen. Letztlich fügt sie sich damit ins System oder dem System, wenn man so will. Denn das Zweiklassensystem scheint gerade den Amerikanern Tradition zu sein, betrachtet man Genrefilme von The Last Picture Show über Dazed and Confused bis hin zu Superbad.

Bezeichnend an Heathers ist, dass sich der Film keiner der zwei Klassen besonders widmet. Heather Duke schlüpft in ihre neue Rolle, weil der Platz gefüllt werden muss. Einen Einblick in ihr Innenleben erfährt der Zuschauer ebenso wenig, wie bei ihrer Namensvetterin Heather McNamara (Lisanne Falk), obwohl diese sogar eine eigene Radio-Szene mit Kummerkastenfunktion erhält. Die „Opfer“ spielen in Lehmanns Film also die zweite Geige. Die eigentlich Opfer, Geeks, Nerds und Außenseiter, allerdings auch. Gelegentlich räumt der Film ihnen Raum ein, wenn Betty (Reneé Estevez), Veronicas Jugendfreundin, wieder diese alte Freundschaft ausleben darf, oder wenn Martha „Dumbtruck“ (Carrie Lynn) angesichts der überbordenden Beliebtheit nach den Suiziden der Anderen ebenfalls dem Werther-Effekt verfällt - und zynischer Weise auch hier versagt. Stattdessen steht mit Veronica die eigentliche Identifikationsfigur im Zentrum, ein Kind zweier Welten, wenn man so will und letztlich der personifizierte repräsentative Querschnitt.

Die Welt, in die Lehmann sie schickt, ist bevölkert von eindimensionalen Klischeebildern - dem Spiegelbild der Gesellschaft, wie J.D. sie am Ende des Filmes nennt („not because society didn't care, but because the school was society“). Personalisierungen sind unerwünscht, wenn sie auftauchen, werden sie bei Seite geschoben. Die trauernde kleine Schwester bei der Beerdigung darf einen kurzen, kummervollen Blick in die Kamera werfen, Heather McNamara rasch ihre Selbstzweifel einem US-Domian beichten und die jocks sich einen Moment zu reif fühlen, um Nerds zu verdreschen. Auf diese Weise erspart sich Lehmann, dass das Publikum mit ihnen sympathisiert im Angesicht ihres Todes. Über Heather Chandler erfährt der Zuschauer im Grunde nichts. Ihre persönlichste Szene ist das angewiderte Anspucken ihres eigenen Spiegelbildes nach dem Blowjob für einen College-Studenten. Wie alle anderen füllt sie eine Rolle aus, tut das, was von ihr erwartet wird. Sie folgt den Systemanforderungen, die ein Abweichen als Fehlfunktion identifizieren.

Die Morde an Heather Chandler, Kurt und Ram, die versuchten Suizide von Martha und Heather McNamara - sie berühren den Zuschauer nicht, weil sie ihn nicht berühren sollen. Heathers ist bevölkert von Figuren, die sich um nichts anderes kümmern, als um sich selbst. Die Elternfiguren von Veronica und J.D. nehmen nur oberflächlich am Leben ihrer Kinder teil. Aspekte wie der Suizid von J.D.’s Mutter oder Heather Dukes Bulimie werden angerissen, aber nicht weiterverfolgt. Was klingt, wie Kritik, soll keine sein. Lehmann reißt die Figuren gerade soweit an, dass sie so authentisch wirken, wie sie es für einen Genrefilm tun müssen. Aber er lässt sie zugleich soweit im Dunkeln, dass sie nicht drohen, die Intention seiner Geschichte zu gefährden. Heathers ist ein Film über „Heathers“, also Rollenbilder innerhalb einer Matrix, in dem Veronica zur Einäugigen unter den Blinden verkommt. Peu a peu durchbricht sie diese Matrix, zuerst durch ihre Liaison mit J.D., dann mit ihren freundschaftlichen Annäherungen an Betty und Martha.

Allerdings wandelt Heathers bisweilen durchaus auch auf kritischen Pfaden, z.B. wenn Heather Chandler gegen Ende einer schuldbewussten Veronica erscheint und dies die sich ankündigende Klimax unnötig in die Länge zieht. Zudem hätte es sich Daniel Walters vielleicht überlegen können, in seinem Drehbuch ganz auf die Elternintegration, abgesehen von Rams Vater, zu verzichten. Auch wenn gerade Veronicas Mutter durchaus eine sehr treffende und gelungene Dialogzeile („When teenagers complain that they want to be treated like human beings, it's usually because they are being treated like human beings.“) erhält. Grundsätzlich ist Lehmanns Debüt jedoch zu recht „Kult“, der von seinem schwarzen Humor und seinen beiden gut aufgelegten Jungdarstellern Ryder und Slater lebt. Am Ende des Filmes ist die Elite (Heather Duke) noch die Elite, die jocks sind die jocks und den Ausgestoßenen wie Martha wird kein Happy End beschert. Am Ende hat lediglich Veronica die Matrix durchschaut und sie durchbrochen. Und mit ihr hoffentlich auch der ein oder andere Zuschauer. In diesem Sinne: Lick. It. Up.

8.5/10

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