11. Mai 2013

Les lèvres rouges [Blut an den Lippen]

How does this story end?

Ein Wort das sich wohl unweigerlich mit dem Vampirismus verbindet ist: Sex. Erotische Figuren, blanke Hälse, pulsierendes Blut. Kein Wunder passt True Blood so exquisit zum Blankzieh-Sender HBO und was heute in Form der Twilight-Filme oder der TV-Serie The Vampire Diaries allenfalls zugeknöpft-prüde daherkommt, avancierte schon bei Harry Kümel Anfang der 1970er Jahre zur Horror-Sexploitation in dessen zweitem Spielfilm Les lèvres rouges (dt. Die roten Lippen) – international bekannt als Daughters of Darkness. Jahrelang in Deutschland indiziert, veröffentlicht das kleine beachtenswerte Label Bildstörung das von manchen als Kult-Klassiker gefeierte Horror-Poem nun mit einer Freigabe ab 16 auf Blu-ray und DVD.

Seiner Zeit brachte es Les lèvres rouges gerade international zu Ruhm, der Film füllte an seinem Startwochenende die Pariser Kinos und das Hollywood-Fachmagazin Variety nannte ihn damals “so intentionally perverse that it often slips into impure camp”. Beide Attribute sind sicher der damaligen Zeit geschuldet, wirkt Kümels Film 42 Jahre nach seiner Premiere weder pervers noch sonderlich theatralisch. Vielmehr erzählt der Belgier eine faszinierend gefilmte Geschichte über Liebe, Macht und Lust der vier Protagonisten im mondänen Schauplatz eines leeren, feudalen Luxus-Hotels im Küstenort Ostenende. Innerhalb von 72 Stunden werden drei dieser Personen sterben, die Vierte wiederum “will live… forever”.

So kündigte einer der Radiospots den als Vampir-Erotik vermarkteten Film damals an. Zu Beginn reist ein vor wenigen Stunden vermähltes Paar, der vermeintlich adelige Stefan (John Karlen) und die bürgerliche Valerie (Danielle Ouimet), im Zug gen England. Als es auf den Gleisen zu Komplikationen kommt, steigen sie in einem Luxus-Hotel in Ostenende unter. Dieses ist dank der winterlichen Saison vollkommen leer, doch bereits am selben Abend kündigen sich mit der Gräfin Elizabeth Bathory (Delphine Seyrig) und ihrer Zofe Ilona (Andrea Rau) weitere Gäste an. Die entwickeln bald ein wachsendes Interesse an dem jungen Paar, das wiederum auf eine Mordserie im benachbarten Brügge aufmerksam wird.

Dort fanden sich in einer Woche vier junge Frauen mit durchgeschnittener Kehle. “No trace of blood”, lässt ein scheinbarer Anwohner, der sich später als pensionierter Polizist (Georges Jamin) entpuppt, das Paar beim Fund der vierten Leiche wissen. “It gave you pleasure”, bemerkt Valerie die Erregung Stefans beim Anblick des Leichnams. Und während Stefan immer aufgewühlter reagiert, wecken die Ereignisse Erinnerungen bei den anderen Beteiligten. “Those Bruges murders are rather special”, deutet der Polizist am Abend im Hotel an. “One might say… classic.” Er erinnert sich an einen ähnlichen Vorfall einige Jahrzehnte zuvor. Und nicht nur er hat ein Déjà-vu-Erlebnis, sondern auch Concierge Pierre (Paul Esser).

“It seems to me that Madame has already stayed at this hotel”, bemerkt er entgeistert als die Gräfin eincheckt. “It was such a long time ago and Madame looks exactly like the lady who must have changed a great deal since.” Die jung gebliebene Adelige erwidert kokett, dass es sich um ihre Mutter gehandelt haben muss – eine These, die auch Stefan gegenüber Pierre in den Raum wirft. Für sich selber entwirft Bathory gegen Ende eine eigene, keinesfalls unpassende Beschreibung: “You know, the beautiful stranger – slightly sad, slightly mysterious”. Die schöne Blondine will lediglich geliebt werden, was einerseits ihre Zofe Ilona erklärt, anderseits ihr aufkommendes Interesse an Stefan und insbesondere Valerie.

Mit dem klassischen Vampirfilm hat Les lèvres rouges nur bedingt etwas zu tun, dass es sich bei der Gräfin Bathory und Ilona um Vampire handelt, ist hier lediglich Detail und Erklärung für das jugendliche Erscheinungsbild der Gräfin. Es gibt keine exponierten Eckzähne und die Scheu vor Sonnenlicht wird nur am Rande erwähnt, vielmehr arbeitet Seyrigs Protagonistin auf einem psychologischen Level und mittels Erotik. Im Vordergrund steht jedoch der Kampf um Valerie, der hier personifizierten Unschuld. Im Abhängigkeitsverhältnis zu Stefan stehend, will sie die Gräfin unter ihre Fittiche nehmen. Darin wiederum sieht die leblose Ilona ihre Chance, aus ihrer eigenen Abhängigkeit von der einnehmenden Gräfin zu entkommen.

“I don’t know what’s going to happen to any of us”, heißt es an einer Stelle von der schmollmündigen Brünetten ominös. Und wie der Radiospot vorwegnahm, bleibt es nicht bei den vier Leichen in Brügge. Viel gewinnt Kümels Film hier aus seinem Schauplatz des verlassenen Hotels in all seiner Mondänität, aber auch aus der Farbpalette, auf die der Belgier zurückgreift. Dabei ist Rot vorherrschend, von den Kleidungsstücken der Figuren (u.a. Stefans Pullover und Bademantel, aber auch das Kleid der Gräfin) bis hin zu dem Auto der Gräfin und ihren sowie Ilonas Lippen. In der Tat ist das erste, was wir von der Gräfin sehen, ihr rot bemalter Mund. Ergänzt wird das Farbbild zusätzlich primär von Weiß und Schwarz.

So viel Zeit sich Les lèvres rouges zuerst auch nimmt, im Schlussakt überschlagen sich die Ereignisse dann. Und ein Subplot über Valeries Bestreben, mit Stefan dessen Mutter in England zu besuchen (die von der Hochzeit nichts ahnt und ihre eigenen Geheimnisse besitzt), dient zwar der Charakterzeichnung von Stefan – der sich als Unterwürfiger in seiner Ehe zu Valerie Dominanz verspricht –, wirkt aufgrund der Geschehnisse zu Beginn des finalen Akts aber verloren. Kümel präsentiert also eine Geschichte von Getriebenen, sei es die nach Jugend lechzende Gräfin, der nach Macht lüsterne Stefan, die nach Liebe suchende Valerie, die Freiheitsstrebende Ilona oder der sich Aufklärung wünschende Polizist.

Unbestrittener Star des Films ist dabei die mysteriös-erotische Delphine Seyrig, zehn Jahre zuvor bekannt geworden durch L’Année dernière à Marienbad ihres Mannes Alain Resnais. Dagegen hinterlässt speziell Danielle Oiumet, ehemalige Miss Quebec, kaum Eindruck. Die träumerisch-verspielte Musik stellt sich dabei wie Kümels Mise-en-scène ganz in den Dienst des Films. Somit ist Les lèvres rouges ein atmosphärisches Werk geworden, das als „Horror-Sexploitation“ zu beschreiben wohl zuviel des Guten wäre. Dafür sind die beiden Sexszenen zu ästhetisch inszeniert und die Handlung aus heutiger Sicht mehr Drama denn Horror. Erotisch ist das Ganze aber allemal – und wen wundert’s, es ist ja auch ein Vampirfilm.

7.5/10

Blu-ray
Das Bild der Blu-ray überzeugt vor allem in den gut ausgeleuchteten Szenen des Films, während es in „Nachtszenen“ (gedreht wurde im Day-for-Night-Verfahren) bisweilen Detailschwächen im Schwarzbereich gibt. Ebenso zufriedenstellend ist die klar verständliche Mono-Tonspur. Neben der ungeschnittenen Fassung des Films ist die umgeschnittene und teils sinnentstellende deutsche Kinofassung enthalten. Zudem Interviews und ein Audiokommentar mit Harry Kümel in deutscher Sprache, eine kommentierte Bildergalerie sowie der Vorspann für die US-Fassung mit einem leicht trashigen Lied von Jazz-Sängerin Lainie Cooke. Das solide Bonusmaterial wird abgerundet durch das für Bildstörung obligatorische Booklet mit zwei guten Essays über Kümels Schaffen.

1 Kommentar:

  1. Der Film hört sich aufregend an. Kein Wunder, dass ich bisher noch gar nichts vom Film gehört habe!

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