27. Oktober 2017

The Meyerowitz Stories (New and Selected)

Was that a spot?

Künstler sind oft exzentrisch – von Vincent van Gogh bis hin zu Salvador Dali. Hierin liegt wohl auch mit ein Faktor für die Faszination mit jenen Künstlern. Der Bildhauer Harold Meyerowitz (Dustin Hoffman) ist ebenfalls leicht exzentrisch, wenn er im Trenchcoat Sohn Danny (Adam Sandler) und Enkelin Eliza (Grace Van Patten) daheim empfängt. Die Faszination der Kunstwelt mit ihm hält sich inzwischen jedoch in Grenzen. Auch deswegen organisieren Danny und seine Schwester Jean (Elizabeth Marvel) eine Retrospektive für den Vater, der aktuell plant, sein Haus sowie Kunstbestand aufzulösen. Noah Baumbach erzählt in seinem neuen Film The Meyerowitz Stories (New and Selected) in Auszügen aus dem Leben dieser Familie.

Zu ihr gehört auch Matthew (Ben Stiller), der jüngste Sohn Harolds, der aus der Ehe mit seiner zweiten Frau stammt. Er ist der Gegenentwurf zu seinem Halbbruder: Beruflich erfolgreich als Finanzberater genießt er die Zuneigung seines Vaters, auch wenn er diesen in seiner Heimat New York als Angelito eher selten besucht. Danny hingegen hat nur eine gescheiterte Karriere als Pianist vorzuweisen, seit Elizas Geburt hat er gar nicht gearbeitet, sondern war Hausmann. Da die Tochter nun selbst ein Filmstudium beginnt, können auch die Eltern endlich ihre gescheiterte Ehe offiziell machen. Was Danny wiederum obdachlos macht, weshalb er vorerst bei Harold und dessen vierter Ehefrau und Alt-Hippie Maureen (Emma Thompson) unterkommt.

Weitestgehend erinnert The Meyerowitz Stories dabei an eine Mischung aus Woody Allen und Wes Anderson, der Humor ist subtil und nuanciert. Baumbachs Film dreht sich im Kern um die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern. So hat Danny zwar weder eine Arbeit noch eine Bleibe, dafür aber ein sehr inniges Verhältnis zu seiner jugendlichen Tochter, die er bereitwillig bei ihren pornografischen Avantgarde-Kurzfilmen unterstützt. Die Beziehung von Danny und Eliza kontrastiert dabei die von Danny zum eigenen Vater. Von Harold wurde Danny meist außen vor gelassen, was mit dadurch begünstigt war, dass Letzterer zumeist bei seiner Mutter und getrennt vom Vater lebte. Der wiederum konzentriert sein Interesse auf Matthew.

Zwar ist Matthew selbst kein Künstler, kommt aber ganz nach dem Vater. Der Kontakt zu Harold ist ähnlich eingeschränkt wie der zum eigenen Sohn, der bei der Ex-Frau lebt. Per Facetime kommuniziert Matthew zwischendurch, ist aber mehr unterwegs als im Leben des Sohnes präsent. Missgunst von Danny und Jean ist dennoch kaum vorhanden, auch wenn Matthew später vom großen (Halb-)Bruder vorgeworfen wird: “You make me feel real bad about myself.” Noch weniger leicht hatte es Jean, die den Brüdern bei einem offenen Austausch gesteht, sie würden nie nachvollziehen können “what it means to be me in the family”. Obschon weniger geliebt als Matthew sind es trotzdem gerade Danny und Jean, die sich mehr um Harold kümmern.

Der weiß dies wenig zu schätzen, selbst als er im Verlauf stürzt und Zeit im Krankenhaus verbringt. Baumbach nutzt diesen Umstand, um die drei Geschwister, speziell die Brüder, wieder einander näher zu bringen. Dabei steht Adam Sandler im Zentrum, der eine seiner seltenen ernsthaften Rollen spielt und dabei wie jeher überzeugt. Das gefällige Ensemble, zu dem auch Judd Hirsch als Harolds erfolgreicherer Kunstkollege L.J. Shapiro gehört, trägt den Film die meiste Zeit insgesamt sehr gut. Garniert mit kurzweiligen Gast-Auftritten von Sigourney Weaver, Candice Bergen und Adam Driver. Nur wenn The Meyerowitz Stories gegen Ende zeitweilig eine emotionale Richtung einschlägt, fällt speziell Ben Stiller leicht aus dem Rahmen.

Ob es für die Beziehung von Harold zu seinen Kindern zu spät ist, bleibt dabei offen. Zumindest die der Geschwister untereinander wirkt jedoch zum Schluss der Geschichte(n) gestärkt. “It’s always been the same, same old story”, sang Cat Stevens in seinem Evergreen “Father and Son” über das schwierige Verhältnis eines Vaters zu seinem Sohn. Noah Baumbach inszeniert seine Version dieser Beziehung mit seiner gewohnten unernsten Ernsthaftigkeit, der im Vergleich zu seinen letzten Filmen Frances Ha und Mistress America – mit Muse und Freundin Greta Gerwig – etwas die Leichtigkeit fehlt. Exzentrisch genug ist The Meyerowitz Stories aber allemal. Womit ihm eine gewisse Faszination nicht abgesprochen werden kann.

6.5/10

20. Oktober 2017

mother!

You gotta fight for your right to party.
(Beastie Boys, [You Gotta] Fight for Your Right [to Party])


Der US-Zirkuspionier P.T. Barnum wird mit dem Ausspruch “there’s no such thing as bad publicity” assoziiert. Selbst negative Werbung sei letztlich trotz allem noch Produktwerbung – das gilt bei Filmen vielleicht noch am ehesten, je weiter das Meinungs-Pendel in die qualitative Gegenrichtung schlägt. Nach dem Motto: So schlecht, wie der Film gemacht wird, kann er gar nicht sein. Daraus folgert gegebenenfalls ein Drang zur Selbstüberzeugung. Immer öfter drohen Hollywood-Filme dennoch, früh zu Kassen-Flops zu werden, indem ihnen ihr vermeintlich schlechter Ruf vorauseilt. Ohne dass sie deswegen jedoch schlecht sind – mitunter, wie Gore Verbinskis vergnüglicher The Lone Ranger, sogar im Gegenteil ausgesprochen gelungen ausfallen können.

Ob nun eine Note F der US-Film-Marktforscher von CinemaScore, die schlechteste mögliche Wertung seitens der Befragten, hierunter fällt, sei dahingestellt. Zumindest ist die Wertung wahrlich eine Auszeichnung, wird sie doch relativ selten vergeben (u.a. an Richard Kellys The Box). Dass sein jüngster Film die Meinungen spalten würde, hat Darren Aronofsky sicher kalkuliert. Das Feedback zu mother! umfasst das volle Spektrum von Meisterwerk bis Katastrophe. Er wollte einen “Punk-Film“ machen, erklärte Aronofsky im Nachhinein. Einen Film, der das Publikum konfrontiere und provoziere. Die Ablehnung, so folgert der Regisseur, ist somit letztlich ein Eingeständnis für den Wahrheitsgehalt der intendierten Filmaussage.

Erzählt wird im simpelsten Sinne von einer jungen Frau (Jennifer Lawrence), die mit ihrem Mann (Javier Bardem), einem Poeten, in einem Landhaus wohnt, das sie soeben renoviert. Bis zuerst ein kränkelnder Orthopäde (Ed Harris), kurz darauf seine egozentrische Gattin (Michelle Pfeiffer), dann deren Söhne (Domhnall Gleeson, Brian Gleeson) und schließlich eine ganze Horde von Verehrern des Poeten inklusive dessen Publizistin (Kristen Wiig) auf der Bildfläche erscheinen und die Nerven der Hausherrin (über-)strapazieren. Im weitesten Sinne verfilmt mother! derweil lose Passagen aus der Bibel, vom 1. Buch Mose hin zu den Evangelien und kulminierend in der Offenbarung des Johannes als sozio-ökologischen Kommentar.

So repräsentiert Jennifer Lawrences im Laufe des Films schwanger werdende Frau die titelgebende Mutter Natur, Bardems an Schreibblockade leidender Poet dagegen steht für Jahwe, ihr gemeinsames Haus, um welches sich die Frau kümmert (“I wanna make a paradise”), für die Erde. Ihr Leben verläuft weitestgehend harmonisch, bis zum Eintreffen der Menschen an ihrer Pforte. Erst ist es Harris’ Double für Adam, das die Aufmerksamkeit des Hausherren auf sich zieht. Mit Eintreffen von Pfeiffers Eva-Vertretung geraten die Dinge noch schneller aus den Fugen. Sie steckt ihre Nase in Angelegenheiten und Orte, die sie nichts angehen. Korrumpierende Aktionen, die verstärkt drohen, das sie aus dem „Paradies“ des Hauses vertrieben werden könnten.

Die Idee, das 1. Buche Mose um Adam und Eva sowie den Brudermord von Kain, hin zum Gericht über Sodom und Gomorra, der Geburt Jesu und seinen Tod und schließlich der Apokalypse in ein zeitgenössisches, fast kammerspielartiges Szenario zu pressen, ist sicher nicht verkehrt. Die Umsetzung dieser Idee in Form von mother! dann allerdings schon. Bereits mit seinen früheren Werken wie The Fountain mag sich Aronofsky den Vorwurf der Prätention verdient haben, doch mother! setzt dem Ganzen die Krone auf. Die verschiedenen ineinander überfließenden Vignetten sind nie wirklich nuanciert oder subtil, vielmehr überaus plump und uninspiriert. Sie passieren und lösen einander ab, kommunizieren aber nicht wirklich etwas.

Da treten Kain (Domhnall Gleeson) und Abel (Brian Gleeson) auf und nach dem Brudermord gleich wieder ab. Nach einem ausufernden Leichenschmaus mit Sintflut-Referenzen (“could you come down, the sink’s not brazed”) macht der Film mit der einsetzenden Schwangerschaft eine kurze Pause, ehe sich das Chaos erneut Bahn bricht. Der Schlussakt ist eine Tour de Force für die Mutter-Figur. Der sich in seiner Eitelkeit verlierende Poet wird von der Zuneigung der Menschen geblendet, ein privates Abendessen mutiert zur wilden Hausparty, die ein Sonderkommando aufzulösen versucht, ehe die Lage eskaliert. Das ist wenig spitzfindig, auch nicht, als später Jesu geboren und buchstäblich verspeist wird („Nehmt, das ist mein Leib“, Mk, 14,22).

mother! ist eine mit dem Holzhammer kommunizierte Allegorie auf die Umweltzerstörung durch die Menschheit. Verächtlich blickt und agiert diese mit der Figur von Lawrence, wird am Ende sogar gewaltsam. Sie unterminiert das Konstrukt des Hauses – erneut buchstäblich. Die Botschaft: Wir zerstören den Planeten und ignorieren die Klagen von Mutter Natur. Gott selbst interveniert nicht, zu sehr ist er in der durch die Anhimmlung der Menschen ausgelösten Eitelkeit verloren. Die Mutter-Figur ist dabei auch eine solche für den Poeten, doppeldeutig zitiert Aronofsky nach hinten raus in einer Szene zwischen Ihr und Ihm daher aus Shel Silversteins The Giving Tree (“I wish that I could give you something but I have nothing left”).

Aufgrund der Bibel-Allegorien ist der Film zugleich ein Kommentar auf das Christentum – hier jedoch kritischer beäugt als in Aronofskys jüngster Bibel-Adaption Noah. Nur fehlt es wie in der Umwelt-Metapher einer genauen Motivation des Gezeigten. Die Affektion für den Poeten wird nicht erklärt, seine Barmherzigkeit ebenso nicht. Von der Reue Jahwes aus dem Alten Testament hinsichtlich der Menschen fehlt viel in mother! – und den Bildern ein gewisses Gewicht. Es reicht nicht, die sinnbildliche Abendsmahlgabe des Leib Christi in der eucharistischen Gestalt der Hostie ins buchstäbliche Grafische umzumünzen, wenn die gezeigte Handlung nicht eingeordnet wird. Positive Menschenbilder (z.B. Mose, Abraham) fehlen zudem gänzlich.

Grundsätzlich spricht nichts dagegen, die Zerstörung des Planeten anhand von in die Gegenwart übertragene Bibelstellen zu kommentieren. Ein Kommentar sollte jedoch mehr sein, als eine simple Kritik ohne Einordnung. mother! hätte in der Form als Allegorie womöglich besser funktioniert, wenn der Film nicht zugleich seine Botschaft mit einem Sauseschritt durch die einprägsamsten Momente der Bibel verknüpfen wollte. Generell hätte dem Film deutlich mehr Subtilität gut zu Gesicht gestanden, die mother! jedoch gänzlich vermissen lässt. Für Darren Aronofsky ist dies der nächste filmische Rückschritt nach den zuletzt enttäuschenden Noah und Black Swan. Insofern ist mother! letzten Endes doch weniger “punk” und eher “junk”.

4/10

13. Oktober 2017

Testről és lélekről [Körper und Seele]

Date of first seminal emission?

Früher waren die Geschlechter ein gemeinsames Kugelwesen, ehe sie Zeus in einer göttlichen Trennung in zwei Hälften teilte. So legt es der Philosoph Platon in seinem Dialog Symposion seiner Figur Aristophanes in den Mund. „Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind“, erzählt Platon durch seine Figur. „Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte.“ Zwei verwandte Seelen treffen auch in der Geschichte von Testről és lélekről – bei uns: Körper und Seele – der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi aufeinander. Die Jury der Berlinale 2017 um Paul Verhoeven lobte das Mitgefühl des Films und zeichnete ihn mit dem Goldenen Bären aus.

Als auf einem Schlachthof die Qualitätskontrolleurin in die Elternzeit geht, wird sie durch Mária (Alexandra Borbély) ersetzt, eine soziale Außenseiterin mit Asperger-Charakteristika. Nach dem Diebstahl einiger Tier-Potenzmittel lädt der Finanzdirektor des Schlachthofs, Endre (Géza Morcsányi), auf Anraten der Polizei eine Psychologin ein, um das Personal zu profilieren. Dabei stellen Mária und Endre fest, dass sich beide nachts in ihren Träumen treffen. Dort streifen sie gemeinsam als Hirsch und Hirschkuh durch den verschneiten Wald. Fortan tauschen sich die Zwei regelmäßig über ihre Träume aus und kommen einander näher. Doch Márias soziale Störung und Berührungsängste drohen, ihrer zarten Romanze in die Parade zu fahren.

Mit Ruhe und Bedacht erzählt Ildikó Enyedi ihre Geschichte von zwei Figuren, die gemeinsam ihre Einsamkeit bekämpfen wollen. Mária ist aufgrund ihres autistischen Verhaltens ein Außenseiter, meidet körperlichen Kontakt und geht ihr Leben gänzlich strukturiert und nach Regeln geordnet an. Da wird dann auch schon mal Rindfleisch abgestuft, weil es minimal an der Top-Auszeichnung vorbei schrammt. Endre wiederum ist durch die Lähmung seines linken Arms gebeutelt, lebt seither zurückgezogen und hat in der Folge dem anderen Geschlecht abgeschworen. Die Faszination des geteilten Traums treibt die Charaktere anfangs zueinander, ein romantisches Interesse aneinander und die Suche nach Liebe ergibt sich erst danach daraus.

Inspiration für ihre Handlung könnte sich Enyedi von Brian Wilsons Song Meet Me in My Dreams Tonight geholt haben. “Tonight I’ll drive home all alone / And maybe later we'll talk on the phone / But it takes a little more to get me through / If we can’t get together here’s what we’ll do / Hold on / And meet me in my dreams tonight”, sang der Musiker darin 1988. Fortan ist Mária bestrebt, über ihre soziale Störung hinwegzukommen, um die Affektion zwischen ihren tierischen Traumbildern auf ihre reale Beziehung zu Endre zu übertragen. Testről és lélekről generiert seinen subtilen Humor aus vielen solchen Momenten, beispielsweise wenn Mária nach Feierabend zu „Studienzwecken“ mit griffbereiten Gummibärchen Pornofilme goutiert.

Dieses Bestreben, „aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen“, um nochmals aus Platons Symposion zu zitieren, eint nun Mária und Endre. Gänzlich harmonisch verläuft ihre Geschichte deswegen aber nicht. Wie auch die Beziehung der beiden Figuren nicht die einzige im Film ist, die das Zwischenmenschliche zum Thema hat. So hadert der Schlachtmeister damit, dass seine Gattin bereits mit anderen Angestellten des Schlachthofs liiert war, und Endre selbst verdächtigt erst einen neuen extrovertierten Schlachter des Potenzmittel-Diebstahls, ehe der Konflikt bereinigt wird. Ihren Fokus richtet Ildikó Enyedi jedoch klar auf ihre zwei Protagonisten, ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Zuneigung.

Der Film lebt speziell von Alexandra Borbélys zurückgenommenem Spiel, das sich aufgrund der Persönlichkeit der Figur dabei auf bloße Blicke beschränkt. Gerade auch mit den Tiermotiven – sei es im Traum oder als Kontrast dazu im Schlachthof – gelingt es Enyedi oft, teils anmutige Bilder zu finden. Das tröstet etwas über das etwas ungeschickte Drama zum Ende des zweiten Aktes und die Vorhersehbarkeit der Geschichte hinweg. „Allein ist der Mensch ein unvollkommenes Ding; er muss einen zweiten finden, um glücklich zu sein“, wusste auch Blaise Pascal getreu der Rede des Aristophanes. Dennoch hätte Testről és lélekről nicht zwingend ins Genre des Liebesfilms abgleiten müssen – zwei lediglich verwandte Seelen hätten schon ausgereicht.

6.5/10

6. Oktober 2017

Silence

The price for your glory is their suffering.

Das Leben ist Leiden – das galt früher noch mehr als heute. So entstand dann konsequenter Weise die Religion. „Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet Alles“, schrieb Friedrich Nietzsche in „Der Antichrist“ nieder. „Es galt eine Religion zu erfinden, in der geliebt werden kann: damit ist man über das Schlimmste am Leben hinaus, – man sieht es gar nicht mehr.“ Ähnlich interpretiert werden könnte auch der Glaube der Kakure Kirishitan in der Edo-Zeit Japans, die nach Verbot ihres Katholizismus’ Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Glauben im Geheimen ausleben mussten. Sie stehen im Zentrum der Geschichte von Martin Scorsese Passions-Projekt Silence, welches er nach einem Vierteljahrhundert verwirklichen konnte.

In der Adaption von Endō Shūsakus gleichnamigem Roman von 1966 geht es um die vermeintliche Apostasie des Jesuiten-Priesters Ferreira (Liam Neeson) in Japan. Als diese zu seinem Kollegen Valignano (Ciarán Hinds) in der portugiesischen Kolonie Macau in China durchdringt, machen sich Ferreiras ehemalige Jünger Rodrigues (Adam Garfield) und Garupe (Adam Driver) auf, um den Fall zu überprüfen. Begleitet vom verstoßenen Kichijiro (Kubozuka Yōsuke) treffen die zwei Jesuiten auf Mokichi (Tsukamoto Shinya) und sein Dorf von Kakure Kirishitan. Während sie für dessen Bewohner wieder klerikale Dienste verrichten, erfährt das Shogunat um seinen Großinspekteur Masashige (Ogata Issey) von den Praktiken und ermittelt gegen das Dorf.

Die Suche nach Ferreira gerät dabei bald in Vergessenheit, wenn für Rodrigues und Garupe das Leiden der Kakure Kirishitan greifbar wird. Sie stehen sinnbildlich für all jene Gläubigen des christlichen Glaubens, die in ihrer Liebe zu Gott über das Schlimmste am Leben hinauskommen wollen. Wie Dürstende in der Wüste lechzen sie nach dem Segen, der Kommunion, der Beichte, die nun wieder dank der jungen Jesuiten Einzug in ihr Dorf gefunden haben. “I worry they value these poor signs of faith more than faith itself”, realisiert Rodrigues. “But how could we deny them?” Ein Kreuz, ein Rosenkranz sind für die Gläubigen Liebe genug, während gerade Rodrigues nach einer höheren Identifikation mit seiner Religion strebt.

Im Verlauf von Silence wird Rodrigues, der bald zur alleinigen Hauptfigur avanciert, in eine fast schon messianische Rolle gedrängt. “Your faith gives me strength”, bedankt er sich da bei Mokichi und Co., während diese alsbald für ihren Glauben an ihn und das, was er repräsentiert, bestraft, gefoltert und getötet werden. Mit dem strauchelnden Kichijiro erhält Rodrigues seinen ganz eigenen abtrünnigen „Judas“ an die Seite gestellt, kann diesem trotz seiner wiederholten Verrate jedoch zugleich nicht die christliche Absolution seiner getätigten Sünden absprechen. Für das Shogunat sind die Kirishitan eher ein formales Ärgernis. Mit einer simplen Apostasie in Form von einem Betreten eines Götterbildnisses ist der Vorfall meist aus der Welt geschafft.

Ähnliches wird auch von Rodrigues erwartet, um dem Leid der Kakure Kirishitan ein Ende zu bereiten. Die Figur sieht sich also mit der Frage konfrontiert, ob sie das Leben ihrer Gemeinde oder ihre Seelen retten soll. Dabei bleibt fraglich, inwiefern die Apostasie in Form des Tretbildes (fumie) überhaupt eine solche ist. Schließlich lautete schon Gottes Gebot an Moses: „Du sollst dir kein Gottesbild anfertigen“ (Ex 20,4). Inwieweit nun das Betreten eines von Gott verbotenen Gottesbildnisses eine Apostasie darstellt – zumal eine letztlich nur vorgegebene –, erörtert Silence nicht. “Why must their trial be so terrible?”, fragt Rodrigues dennoch und deutet somit an, dass der dargestellte Konflikt zuvorderst ein psychologischer ist.

Gott selbst wohnt dem Ganzen mit dem titelgebenden Schweigen bei. Das fumie des Shogunats wird als Prüfung verstanden, als Glaubensbeweis und Bekenntnis. Eine Abwendung von Gott zum eigenen Wohl, ähnlich der Verleugnung Petri von Jesus (Mt 26, 69-75), für die Kirishitan. Zugleich aber auch ein Test der Abwendung für Rodrigues, ähnlich wie ihn zuvor Ferreira wohl durchstehen musste. Und versagte. Scorsese erzählt mit Silence von Stärke und Schwäche des Glaubens und seine Bedeutung für die Religion. Wo manche Figuren ihre Standhaftigkeit zum Christentum mit dem Leben bezahlen, ordnet Kichijiro seine Gesundheit über seiner Religion ein. Was jedoch deshalb keineswegs heißt, dass diese für ihn ohne Bedeutung wäre.

Scorsese beleuchtete dies selbst im Gespräch mit der Jesuiten-Zeitschrift La Civiltà Cattolica als es um das Ausüben seines eigenen Katholizismus’ ging. “Practicing is not something that happens only in a consecrated building during certain rituals performed at a certain time of day”, erklärt Scorsese da. Vielmehr äußere es sich in den alltäglichen Handlungen. In gewisser Weise leben also Rodrigues und Kichijiro auf ihre eigene Art und Weise ihre Religion aus. Silence widmet sich dieser Frage dank seiner großen Laufzeit gebührend und aufrichtig, wenn auch mitunter redundant. Dabei jedoch aufgrund Rodrigo Prietos Kameraarbeit stets wundervoll anzusehen und von dem Ensemble um Garfield, Driver und Kubozuka eindringlich gespielt.

Der im September verstorbene Heiner Geißler war selbst in jungen Jahren Jesuit, der mit der Zeit angesichts des Leidens in der Welt hinsichtlich Gott zweifelte. Und ähnlich wie Nietzsche realisierte: „Millionen Menschen können das jetzige Leben nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben ertragen.“ Für Geißler reichte die „Sehnsucht nach der Sehnsucht, glauben zu können“, um sich noch als Christ zu identifizieren. In gewisser Weise handelt auch Silence von dieser Sehnsucht nach der Sehnsucht des Glaubens. Mit seinem Passions-Projekt gelang Scorsese sein bester Film in diesem Jahrhundert. Insofern gibt Silence dem Zuschauer ebenfalls Glauben zurück. Wenn auch eher den Glauben daran, dass Scorsese doch noch gute Filme drehen kann.

7/10