26. November 2016

Under the Sun [Im Strahl der Sonne]

Let’s do it with joy!

Der Esstisch ist prall gefüllt und während die dreiköpfige Familie isst, klärt der Vater seine acht Jahre alte Tochter auf, dass das Nationalgericht Kimchi vor Krebs schützt. Es folgt ein herzliches Lachen und dann ein Schnitt. Der „Regisseur“ unterbricht die Szene und gibt der Familie neue Anweisungen. Das 8-jährige Mädchen, Zin-mi, soll statt links vom Tisch rechts sitzen. Und dann doch wieder umgekehrt. Mal mit angewinkelten Beinen und dann doch wieder nicht. Auch das Lachen muss abgestimmt werden. Inszeniert wird dabei allerdings keine Spielfilm-Szene, sondern eine für das wahre Leben. Eine ausländische Filmcrew ist zu Gast in Nordkorea und kriegt von der dortigen Regierung hierbei nur das gezeigt, was diese zeigen möchte.

Der russische Regisseur Vitaly Mansky erhielt für seine Dokumentation Under the Sun Einblicke in Nordkoreas Gesellschaft, allerdings wie alle ausländischen Journalisten in Begleitung von staatlichen Kontrolleuren. Diese wählten Zin-mi als Protagonistin für Mansky aus und choreografieren ihren Alltag für den Regisseur und seinen Film. Vom Schulunterricht, der repetitiv den Konflikt mit Japan wiederholt, über Zin-mis Eintritt in die kommunistische Kinderunion des Landes bis hin zu der Aufnahme dieses Umstandes bei ihren Eltern und deren Umfeld. Damit ist Under the Sun nach Werner Herzogs Into the Inferno somit bereits der zweite Film in diesem Kinojahr, in dem ein ausländischer Regisseur in Nordkorea drehen durfte.

Wo Herzog jedoch die Partei der Arbeit Koreas ihre Propaganda ungefiltert runterbeten lässt, dankbar dafür, überhaupt in dem vom Ausland abgeschotteten Land drehen zu können, unterminiert Mansky kongenial die Restriktionen der stalinistischen Diktatur, indem er zwar all das filmt, was die Regierung für ihn und sein Team inszeniert, aber auch das, was zwischen und außerhalb der Plansequenzen stattfindet. So wie die Regieanweisungen an Zin-mi und ihre Familie beim Abendessen, aber auch in einer grandiosen Szene später den Besuch eines Militärs in Zin-mis Schule, wo dieser ausschweifend vom Korea-Krieg berichtet, Mansky aber fast ausschließlich die Kinder zeigt, die währenddessen kaum die Augen offenhalten können.

Insofern ist Under the Sun eine Dokumentation die über Zwischentöne funktioniert. In der man nicht das glauben soll, was man sieht, sondern durch die Art der Inszenierung erst die wahren Einblicke in eine mysteriöse Nation erhält. Dem Gerücht von der kritischen Ernährungslage der 24 Millionen nordkoreanischen Einwohner, die seit dem Zusammenbruch des Ostblocks in den Neunzigern besteht, wird somit dadurch begegnet, dass der Esstisch von Zin-mis Familie buchstäblich bis zum Rand gefüllt ist. Und auch die Uniform des Militärs bei seinem Schulbesuch ist derart mit Medaillen dekoriert, das wahrlich kein Platz für noch eine weitere wäre. Die müsste man dann schon an den beiden Ärmeln oder an der Hose befestigen.

Die Situationen, welche die Partei der Arbeit Koreas für Mansky erdenkt, sind oft derart absurd, dass man sich bisweilen kurz hinterfragt, ob die Nordkoreaner sie nicht vielleicht doch nur erdenken, um letztlich das Bild des Auslands über sie zu bestätigen. So wird Zin-mis Vater für den Film vom Journalisten zum Leiter einer Fabrik für Kleidungsstücke, die Mutter wiederum von der Cafeteria-Mitarbeiterin zur Vorarbeiterin in selbiger Firma. Als wäre dieses typische Arbeiter-Bild der beiden repräsentativer für die Außendarstellung des Landes. “Let’s do it with joy!”, lautet eine der Anweisungen der Partei-Kontrolleure an die Gruppe „Protagonisten“, die hier allesamt eine Fassade aufsetzen und sich sichtlich unwohl fühlen.

Die Propaganda platzieren die Nordkoreaner dabei wo sie nur können. Von den allgegenwärtigen Porträts von Kim Il-sung – auch 22 Jahre nach seinem Tod noch der Ewige Präsident – und seinem Sohn und Nachfolger Kim Jong-il bis hin zu den zahlreichen Legenden über die Rolle der Kim-Familie im Kampf gegen die ausländischen Mächte Japan und USA. Als Zin-mi in der Schule ein Gedicht vorsagen soll, stellt sich auch dieses nur als eine Parteidoktrin der Kommunisten heraus. Die immense Kontrolle der nordkoreanischen Regierung über ihr Volk ist offensichtlich und dieses fraglos das größte Opfer dieses restriktiven politischen Systems, das spätestens seit dem Ende der Sowjetunion gänzlich stagniert und veraltet wenn nicht obsolet ist.

Und auch wenn der Zuschauer vermeintlich wenig von der Realität in Nordkorea mitbekommt – vom fehlenden Zugang zum globalen Internet, über die Unmöglichkeit, das Land zu verlassen, außer zu fliehen, bis hin zu öffentlichen Hinrichtungen von Regimekritikern – so ermöglicht Vitaly Mansky mit seinem Film dennoch einen Blick hinter den (eisernen) Vorhang. Die Partei der Arbeit Koreas ist bestrebt ihr Land als Einheit zu zeigen, nicht zuletzt in den zweifelsohne beeindruckend choreografierten Paraden. Der Nationalismus ist stark verankert und muss auch früh in die nächste Generation indoktriniert werden, wenn das Bild von der starken Kim-Familie aufrecht erhalten werden soll. Hilfreich ist es allerdings auch nicht immer.

Wenn also Kim Il-sung stets in seinen mannigfachen Titeln unter anderem als “respected Generalissimo” bezeichnet wird, kann man sich denken, wie respektabel er in Wirklichkeit war, wenn diese Eigenschaft extra als Zusatz erwähnt werden muss. Es passt daher zumindest vom Ton her, wenn Vitaly Mansky seinen Film mit Violine-Musik unterlegt, die entfernt an John Williams’ Score zu Schindler’s List erinnert. Denn auch wenn hier kein Genozid betrieben wird – obschon es Konzentrationslager gibt –, so wird doch in gewisser Weise ein Volk in seine Zerstörung getrieben. Dass Mansky trotz der parteilichen Restriktionen ein derartiges filmisches Dokument geschaffen hat, kann im Grunde nicht hoch genug gelobt werden.

„Solange ein Volk gezwungen wird zu gehorchen, so tut es wohl, wenn es gehorcht; sobald es sein Joch abzuschütteln imstande ist, so tut es noch besser, wenn es dasselbe von sich wirft“, hatte Jean-Jacques Rousseau einst gesagt. Und man würde es Nordkoreas Volk wünschen, speziell natürlich der kleinen Zin-mi, sich von dieser Diktatur zu lösen. So unwahrscheinlich dies wohl sein dürfte gegenwärtig. “Try to think of something good”, instruiert ihre Lehrerin am Schluss eine in Tränen aufgelöste Zin-mi. “I don’t know what”, lautet die niederschmetternde Antwort. “Tell her everything will be alright”, hatte der Partei-Kontrolleur zuvor die Lehrerin angewiesen. Und irgendwie würde man das der 8-Jährigen in dem Moment auch gerne sagen.

7/10

19. November 2016

Peter and the Farm

Sudden change.

Mitunter scheint es so, als bräuchte der Mensch nichts im Leben zur Glückseligkeit außer einem Stück Land, das er beackern kann. So zieht sich in Mia Hansen-Løves L’avenir die männliche Hauptfigur mit Freunden in eine Farm-Kommune zurück und in Andrea Arnolds American Honey träumt Shia LaBeoufs Charakter von einem Stück Land im Wald für sich. Als Peter Dunning im Alter von 34 Jahren die Farm seines Vaters übernehmen sollte, dachte er sich, das könnte ja ganz spaßig sein. “Who could’ve imagined 35 years later that it doesn’t feel like fun anymore?”, blickt er heute auf damals zurück. Zwei Frauen und vier Kinder hat er durch seine Farm verloren. Und durch einen Unfall in einem Sägewerk auch beinahe seine linke Hand.

Peter Dunning ist vom Leben gebeutelt und gibt sich offen als Alkoholiker mit Depressionen zu erkennen. So sehr sogar, dass er Regisseur Tony Stone anbot, dieser könne ja seinen Suizid aufzeichnen. Zu diesem kommt es im Laufe von Peter and the Farm nicht, der aber dennoch ein eindringliches Porträt eines scheinbar gebrochenen Mannes um die 70 darstellt. Dunning ist ein Ex-Soldat, der sich inzwischen seit Jahrzehnten als Bio-Bauer verdingt. Manche seiner Kühe melke er, seit er zehn Jahre alt ist. Was angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung der Huftiere von 15 Jahren wohl eher als Metapher gemeint ist. Dunning lebt für seinen Job, auch wenn er durch diesen viel in seinem Leben verloren hat. Allen voran seine Familie.

Würde er seine Kinder anrufen, täten diese nicht einmal abnehmen, berichtet der 69-Jährige. Sein Alkoholismus dürfte dabei keine geringe Rolle spielen, selbst wenn Dunning die meiste Zeit über in der Dokumentation zumindest nicht betrunken wirkt. Regisseur Tony Stone und sein Assistent Dylan Kraus begleiten Dunning dabei wie er seinen Acker pflügt, seine Schafe katalogisiert, mit einem Coyoten-Problem kämpft, zuvorderst jedoch wie er über sein Leben reflektiert. Von der Zeit als er auf Hawaii stationiert war über die Anfänge seiner Farm bis hin zu jenen nächtlichen Stunden, wo er aufsteht, um Rum zu trinken, damit er sein Alkoholdelirium unter Kontrolle kriegt. “I’m living in hell right now”, klagt Dunning mehr als einmal.

Ursprünglich wollte er die Hälfte des Jahres mit Farmarbeit zubringen und sich in der anderen der Kunst widmen. Von all diesen Träumen und Ideen ist wenig geblieben. “This farm becomes me, I’ve become the farm”, philosophiert Dunning. Und erwähnt später mit verzweifelter Stimme, dass ihm die Farm mehr bedeute als sein eigenes Leben. Es muss nicht ausgesprochen werden, dass seine Farm mit ein Grund für Dunnings Selbstmordgedanken ist. Aber eben auch zugleich der Hauptgrund, warum er diesen noch nicht nachgegeben hat. Die jahrzehntelange Monotonie seines Alltags nagt an dem einsamen alten und alkoholkranken Mann, der aber nichtsdestotrotz dennoch die Vorzüge seiner Farm zu schätzen weiß.

“This is a beautiful oasis”, schwärmt er gegen Ende. Und Peter and the Farm weiß durchaus die Schönheit der Farm festzuhalten. Sei es wenn Dunning vor einem zugefrorenen Teich amüsiert aus der Vergangenheit berichtet, während idyllisch um ihn herum Schnee rieselt oder wenn er sich in einem sonnendurchfluteten Sommermonat ein Bier gönnt. Er spricht abschätzig über seine Kinder, berichtet Stones Filmcrew aber dennoch freudig, wie er diesen einst exakt die Orte zeigte, wo er sie während einer Waschbär-Jagd mit deren Mutter im Zelt zeugte. Es fällt dem Zuschauer nicht schwer, mit Dunning zu sympathisieren. Etwas, das offenkundig auch Stone, Kraus und Co. tun – womöglich mehr, als für sie selbst und die Dokumentation gut ist.

Das Besondere an Peter and the Farm liegt zum einen an seiner persönlichen Nähe zu seinem Protagonisten, zum anderen jedoch auch an dessen Allgemeingültigkeit. Letztlich haben die meisten Menschen Träume, die sie nicht in die Tat umsetzen können, um Jahr aus, Jahr ein demselben drögen Arbeitsrhythmus zu folgen. Man hadert mit dem Leben, verzweifelt mitunter an ihm, findet in diesem aber ebenso die schönen Momente. Es ist ein eindringliches Porträt, das Tony Stone mit seiner Dokumentation geschaffen hat. Mal berührend, mal erdrückend, teils trostlos und oft humorvoll. Vollends glücklich ist Peter Dunning mit seinem Stück Land zwar nicht geworden, aber vielleicht auch nicht ganz so unglücklich, wie er behauptet.

7/10

12. November 2016

Paterson

Would you rather be a fish?

Unterschiede, so heißt es im Volksmund immer, ziehen sich an. Gerade in Beziehungen. Insofern sind Paterson (Adam Driver) und Ehefrau Laura (Golshifteh Farahani) ein mustergültiges Paar für diese These. Während er sich der Macht der Gewohnheit hingibt, gibt sie sich derweil extrem experimentierfreudig und offen für Neues. Und aus diesem Kontrast bezieht Paterson, der jüngste Film vom Regisseur Jim Jarmusch, einen Großteil seines subtilen Humors. Wie dieser allgemein durch die Charakterzeichnung seiner Hauptfigur in seinem Umfeld generiert wird. Ruhig und relativ ereignislos schickt sich Paterson dabei mit der Zeit an, ein neues kleines Meisterwerk in der Filmografie des US-amerikanischen Auteurs zu sein.

Jeder Werktag im Leben von Paterson beginnt dabei gleich: im Bett, zwischen 6:15 und 6:30 Uhr. Mal liegen er und Gattin einander zugewandt auf der Matratze, mal mit dem Rücken aneinander. Während Laura sich daheim in Gedankenspielen eines Cupcake-Imperiums oder einer Karriere als Country-Star hingibt, sieht Patersons Alltag als Busfahrer in Paterson, New Jersey immerzu gleich aus. Das Leben des jungen Mannes und Hobby-Dichters folgt stets denselben Abläufen. Vom Gedankenniederschrieb in sein Notizbuch, ehe ihn sein Chef Donny (Rizwan Manji) auf die Fahrt schickt, bis zum abendlichen Spaziergang mit Bulldogge Marvin, die beide zur Nachbarschaftskneipe von Barbesitzer Doc (Barry Shabaka Henley) führt.

„In der Gewohnheit ruht das einzige Behagen der Menschen“, wusste bereits Goethe. Und Paterson lebt diesen Ausspruch aus jeder Pore. Mit seinen täglichen Ritualen hat der junge Busfahrer etwas von einem alten Mann, wie auch sein Leben, frei von Smartphone und Computer, erfreulich entschleunigt daherkommt. Patersons Passion ist die Poesie, sowohl als Konsument wie Produzent. Auch das hat natürlich Kalkül, bedenkt man, dass Allen Ginsberg in Paterson aufgewachsen ist und sein Dichterkollege William Carlos Williams einst sein in fünf Bänden erschienenes Poesie-Epos nach der Stadt in New Jersey benannte. In gewisser Weise ist Paterson nicht nur eine Ode an die Ode, sondern auch an jene Dichter-Stadt in New Jersey.

Nicht nur, weil Jarmusch seine Figur als Bewohner jener Stadt nach dieser benennt (amüsant, wenn getreu Gertrude Stein hier Paterson die Paterson-Linie durch Paterson fährt). Der Film referiert neben William Carlos Williams und Allen Ginsberg auch Stadtidol Lou Costello, spricht die Verhaftung von Boxer Rubin “Hurricane” Carter an und lässt die Hauptfigur am Wasserfall des Passaic Rivers Kreativität sammeln. Da passt es, dass Drivers Figur als potenzieller weiterer berühmter Sohn dieser Stadt ankündigt wird – zumindest in den Augen von Gattin Laura. Die wird konsequenter Weise mit Golshifteh Farahani von einer iranischen Darstellerin gespielt, besitzt Paterson doch die zweitgrößte muslimische Bevölkerung in den USA.

Herrlich lebensfroh zelebriert Laura dabei ihre Träume und täglichen Dekorationsdrang im eigenen Haus. „Die Poesie der Dichter bedürfen Frauen weniger, weil ihr eigenstes Wesen die Poesie ist“, sagte der deutsche Kulturphilosoph Friedrich von Schlegel. Und die Poesie spielt in Paterson zumindest eine Nebenrolle, wenn Drivers Busfahrer in seinen Versen von Streichhölzern schwärmt oder über die Zahl physikalischer Dimensionen sinniert. Bezeichnend, dass er sich hier weniger von den wahrgenommenen Gesprächen seiner Fahrgäste inspirieren lässt, als er in seiner Distanziertheit badet. Einfluss nimmt er nur durch Gleichgesinnte auf, sei es ein kleines Mädchen oder auch ein japanischer Tourist (Masatoshi Nagase).

Patersons Gedichte, die dem Film von Dichter Ron Padgett zur Verfügung gestellt wurden, sind dabei oberflächlich betrachtet recht belanglos – aber gerade in ihrer Gewöhnlichkeit liegt in gewisser Weise ihre wahre Schönheit. Und das trifft wiederum auch auf Jarmuschs Film zu, der in seinen nach Wochentagen unterteilten Kapiteln stets demselben Rhythmus folgt und damit etwas von einer Zeitschleife hat. Was eingangs noch befremdlich erscheint, zieht den Zuschauer schnell in seinen Bann, nicht zuletzt dadurch, da Jarmusch durch einen Wechsel zwischen Repetition und Wandel immer wieder amüsanten Nuancen zu setzen vermag. Auch das teils hölzerne Spiel des Ensembles um den stark aufspielenden Adam Driver fügt sich ins Bild.

Ohnehin ist Paterson eine der herzlichsten Komödien des Filmjahres 2016, was einerseits dem Zusammenspiel der Hauptfigur mit ihrer Umwelt im Allgemeinen wie ihrer Beziehung zu Dogge Marvin im Speziellen geschuldet ist. Für den Hund ist das Herrchen ein Widersacher in der Gunst seines Frauchens, weshalb Marvin versucht, Patersons Leben so schwer wie möglich zu machen. Jeder für sich ist bereits eine außergewöhnliche cineastische Figur, in Kombination miteinander avancieren Paterson und Marvin jedoch leicht zu einem der sympathischsten Leinwandpaare aller Zeiten. Hier findet sich in der Folge auch das einzige wirklich dramatische Element des Films, welches zu Beginn des Schlussaktes eine mögliche Katharsis einläutet.

Jarmuschs jüngster Film ist aber auch deswegen so amüsant, weil Paterson ganz anders ist als die anderen Figuren. Stoisch erträgt er die morgendlichen Klagen von Donny und abends die von Bar-Gast Marie (Chasten Harmon), die sich mit ihrem anhänglichen Ex-Freund Everett (William Jackson Harper) herumplagen muss. Auch die vermeintlichen Probleme seiner Fahrgäste, vom Anarchisten-Aufkommen in Paterson bis hin zu sich aufspielenden Männern auf Brautschau, sind dem dichtenden Busfahrer fremd. Laut Konfuzius sind die Menschen von Natur aus fast gleich, „erst die Gewohnheiten entfernen sie voneinander“. Insofern machen seine Gewohnheiten Paterson weniger langweilig als er eigentlich erst durch sie richtig interessant wird.

Ähnlich wie die jüngeren Werke von Terrence Malick gewinnt Jim Jarmuschs aktueller Film durch seine praktisch inhaltsleeren Bilder einen meditativen Charakter. Allerdings muss man sich in diesen erst einfinden – und ihm wohlgesonnen sein. Für Fans des Regisseurs ist Paterson folglich genauso empfehlenswert wie für Freunde ruhiger, bedachter Charakterporträts à la Koreeda Hirokazus Umimachy Diary aus dem vergangenen Jahr. “This is very poetic”, realisiert da auch der japanische Tourist, seines Zeichens selbst ein Dichter. Insofern schließt sich der Kreis, auf eine nahezu poetische Art, wenn Paterson nicht nur ein Film über Dichter im Plural wie Singular ist, sondern im Zuge seiner Laufzeit selbst zum cineastischen Gedicht avanciert.

8.5/10

5. November 2016

Toni Erdmann

Bist du eigentlich ein Mensch?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich kein Fan des deutschen Films bin. Ich schaue sonntags keinen Tatort und auch keine Krimiserien von Dominik Graf. Mein Problem mit dem deutschen Kino liegt einerseits in der geringen Kreativität, gefühlt 80 Prozent der Dramen drehen sich um den Zweiten Weltkrieg und die Wiedervereinigung bzw. DDR. Romantische Komödien à la Schweiger und Schweighöfer äffen derweil Hollywood-B-Movies des Genres nach. Die Darsteller wirken oft so steif wie ihre Dialoge – vielleicht ist das auch nur das „deutsche“ an ihnen – und die Kamerabilder sehen in ihrer Billigkeit schlicht nach Fernsehen aus. Insofern meide ich den deutschen Film meist und verpasse in der Regel auch nicht wirklich etwas dadurch.

Natürlich gibt es Ausnahmen, so sehe ich beispielsweise sehr gerne die Filme von Caroline Link und Christian Schwochow. Und gerade Letzterer widmete sich in Novemberkind und Westen auch der DDR-Thematik. Dieses Jahr gehörte sogar Der Bunker zu den Werken, die mir mit am meisten gefielen, mit Der Nachtmahr kam jedoch auch ein deutscher Film heraus, der für mich all das verkörpert, was ich an diesem Kino verabscheue (siehe oben). Ein deutscher Beitrag, der mit viel Lob überschüttet wurde, war Maren Ades Toni Erdmann. Wollte ich gehässig sein, könnte ich sagen, die hochgelobte Klasse des Films verdankt sich seiner Durchschnittlichkeit, die durchaus aus dem sonst üblichen qualitätslosen Sumpf des deutschen Kinos herausragt.

Toni Erdmann ist kein schlechter Film – aber eben auch kein guter. Er beinhaltet viele der Punkte am deutschen Kino, die mir missfallen (und wie erwähnt, vielleicht sind es einfach kulturelle Aspekte). Aber: Er ist kein Weltkriegsdrama und keines über die Wiedervereinigung. Zumindest nicht über die von West- und Ostdeutschland. Maren Ade erzählt in ihrem dritten Film von der Beziehung eines Vaters, Winfried Conradi (Peter Simonischek), zu seiner Tochter Ines (Sandra Hüller). Beide sehen sich kaum, da Ines für ihre Unternehmensberatung in Bukarest einen Kunden betreut. Wie ein kurzer Besuch daheim offenbart, scheint das Verhältnis zwischen dem humorvollen Vater und der zugeknöpften Tochter aber generell gestört.

Als Winfrieds Hund stirbt, besucht er Ines spontan in Rumänien. Die ist derweil damit beschäftigt, ihren wichtigen Kunden bei Laune zu halten, was durch die Anwesenheit des Vaters gestört wird. Der taucht wiederum fortan verstärkt als überzeichnete Kunstfigur Toni Erdmann in Ines Berufsleben auf, eine Karikierung ihrer eigenen Profession. Zuerst widerwillig, dann immer mehr das (Rollen-)Spiel des Vaters mitspielend, thematisiert Maren Ade in der Folge Punkte wie Sozialwirtschaft und Genderpolitik, während Winfried versucht, Ines aus ihrer beruflich bedingten Depression und Lethargie zu reißen. Fast drei Stunden lang geht das alles so, nur um am Ende irgendwie wieder an dem Punkt anzulangen, wo Toni Erdmann zuvor begonnen hat.

Schauen wir uns also die Figuren einzeln an. Kunstlehrer Winfried ist ein sympathischer Spaßvogel, der in der ersten Szene den Paketlieferdienst mit seinem Rollenspiel veralbert. Schülern wie Familie begegnet er im Unernst, ein falsches Paar Zähne stets griffbereit in seiner Brusttasche. Dass er nicht wirklich Teil im Leben seiner Tochter ist, nagt an ihm (seine Ex-Frau und ihr Mann werfen Ines eine vorgezogene Geburtstagsfeier, von der man Winfried nichts erzählte), noch sehr viel mehr jedoch die Unglückseligkeit der einzigen Tochter. Ob sie denn glücklich sei, fragt der Vater da in elterntypischer Manier Ines bei seinem Besuch. Und muss sich in der Folge wiederholt brüsk von dem eigen Fleisch und Blut in seine Schranken weisen lassen.

Wo der Zugang zu Winfried leicht fällt, ist er zu Ines schon diffiziler. Das Publikum lernt sie beim Besuch ihrer Familie kennen, den sie versucht dadurch zu umgehen, indem sie falsche Anrufe vorgibt, die sie in den Garten fliehen lassen. Ines ist eine Frau, die sich in einer Männerwelt behaupten muss. Eigentlich wollte sie für ihre Firma schon längst in Shanghai arbeiten, doch ihr Chef Gerald (Thomas Loibl) hält sie immerzu hin. Für ihren Kunden Henneberg (Michael Wittenborn) soll sie bei einer Tochterfirma Kosten einparen, offiziell aber nicht von Outsourcing reden. Zugleich scheint Henneberg weniger an ihren Ideen interessiert zu sein als Ines vielmehr für seine eigene Gattin als Mode-Guide durch Bukarest zu schicken.

Auch gegenüber Gerald und ihrem Kollegen – und heimlichen Liebhaber –Tim (Trystan Pütter) muss sich Ines unentwegt behaupten. Womöglich reagiert sie deswegen so harsch gegenüber ihrem Vater, während sie selbst gleichzeitig auch ihre eigene Assistentin Anca (Ingrid Bisu) von oben herab behandelt. Die Geschlechterrollen tauchen immerzu subtil in Ades Film auf, so wenn Tim ihr offen gesteht, wie er mit Gerald über ihre Affäre spricht und Ines dabei lediglich zu einem sexuellen Objekt verkommt. Genauso auch, wenn Ines im späteren Verlauf Toni Erdmann auf einen Geschäftstermin mit Hennebergs rumänischer Tochterfirma nimmt, deren Leiter sich ihr gegenüber zuvor unkooperativ gegeben hat – bis ein Mann neben ihr sitzt.

Womöglich hat sich Ines die Frage, was an ihrem Leben noch lebenswert ist, selbst bereits gestellt. Und reagiert lediglich frustriert, als Winfried sie selbst erneut damit konfrontiert. Wer Ines wirklich ist, lässt sich für den Zuschauer aber dennoch weitaus schwerer feststellen als bei ihrem Vater. Sie reagiert überrascht ob seiner verspielten Art, müsste diese jedoch längst gewohnt sein. Wieso Ines derart konservativ steif ist, wo ihre Eltern enorm nahbar und umgänglich wirken, bleibt ein Rätsel. In der Folge wirkt ihre Beziehung zu Winfried nicht sonderlich familiär und erinnert in ihrer Unterkültheit an das Eltern-Kind-Verhältnis in Der Nachtmahr. So gegensätzlich von ihrem Charakter sind Vater und Tochter dann auch in ihrer Gesinnung.

Winfried fehlt, auch wegen dem vereinzelt gesprochenen Englisch, als Alt-68er und Grünem das Verständnis, was Outsourcing ist. Anzugträgerin Ines dagegen lässt sich zumindest nicht anmerken, dass ihr die bevorstehende Arbeitslosigkeit vieler rumänischer Arbeiter von Hennebergs Tochterunternehmen nahe geht. Sie könne ihrem Vater genau erklären, wie sein Leben direkt mit der Situation in Rumänien zusammenhänge, neckt Ines ihn. Und scheint es durchaus zu genießen, als der in Toni-Erdmann-Verkleidung anschließend bei einem Baustellenbesuch durch seine Albernheit einem Arbeiter den Job kostet, was dem Deutschen erkennbar trifft. Nur: Der Erkenntnisgewinn im Film scheint ein einseitiger des Vaters zu sein.

Ein vermeintlich kathartischer Moment gegen Ende wirkt bei Ines eher aus dem fortschreitenden Frust der Situation heraus geboren. Und wie sich im Schluss zeigt, ist die Figur nicht wirklich weiter als zu Beginn des Films. Die Frage nach dem, was Glück im Leben bedeutet, beantwortet sich erkennbar nur für Winfried. Das mag daran liegen, dass wir die Geschichte aus seiner Sicht verfolgen, mit ihm Ines in Bukarest als Außenstehende beobachten, während diese für das Publikum genauso fremd bleibt wie für ihren Vater. Dass Ade hierfür fast drei Stunden aufwendet, wirkt eher kontraproduktiv, hätte die Geschichte von Toni Erdmann sicher auch – und vermutlich sogar besser – in einer Stunde weniger Laufzeit erzählt werden können.

Der Film lebt dabei vom Spiel seiner beiden Darsteller, das von Hüller gerade gegen Ende mehr fordert als von Simonischek. Wo dessen Figur sich wiederholt im Film hinter Masken versteckt, erhält die von Ines verstärkt Risse – zerbricht allerdings bis zum Ende nicht wirklich. Der injizierte Humor von Toni Erdmann verdankt sich dann primär des gleichnamigen Charakters, der in seinem wüsten Lügenkonstrukt und Vermischung aus Deutsch und Englisch für Lacher sorgt. Und das mit simplen Mitteln, so schmiss sich mein Kinopublikum jedes Mal weg, wenn Winfried in der Öffentlichkeit als Toni Erdmann seine Tochter als seine Assistentin „Miss Schnuck“ vorstellte. Als verkürzter Name von „Schnuckelchen“ für sich natürlich auch sexistisch.

Was macht dies jetzt für einen deutschen Film so besonders? Er muss ja gut sein, sonst wäre er nicht als erster deutscher Beitrag seit 2008/09 nach Cannes eingeladen worden, wie so viele deutsche Rezensionen hervorheben. Fast wirkt es so, als verdanke sich seine kolportierte Qualität primär der französischen Festivalleitung. Nach dem Motto: Der Film muss gut sein – und wir als Nation dankbar, dass er eingeladen wurde. Wehmut trifft Witz, heißt es im Tagesspiegel, ein neuer Ton im deutschen Kino. So als hätte es Filme wie Marcus H. Rosenmüllers Wer früher stirbt ist länger tot nie gegeben. Womöglich ist die Qualität von Toni Erdmann also schlicht Ansichtssache. Immerhin: Ich habe auch schon schlechtere deutsche Filme gesehen.

6/10