24. November 2014

Finding Vivian Maier

I’m surprised she didn’t get shot.

Schon Theodor Fontane sagte: „Zufall ist der gebräuchlichste Deckname des Schicksals“. Da verwundert es nicht, dass vor sieben Jahren der damalige Immobilienmakler John Maloof bei einer Auktion eine Kiste erstand, dessen Inhalt es ihm angetan hatte. “This insane amount of negatives” lockte ihn, plante er doch ein Buch über Chicago zu illustrieren. Hierzu dienten die hunderttausende Negative zwar nicht, dafür begann Maloof zu recherchieren, um wen es sich bei deren Fotografin – Vivian Maier – handelte. Nur fand er keine Informationen im Internet. Und intensivierte seine Bemühungen. Diese führten ihn letztlich bis nach Frankreich, wie Maloof und Co-Regisseur Charlie Siskel in ihrer Dokumentation Finding Vivian Maier rekapitulieren.

Es stellt sich heraus, dass Vivian Maier ein ehemaliges Kindermädchen aus New York war, dass sich seine Freizeit damit vertrieb, auf Chicagos Straßen Menschen zu fotografieren. Wovon aber niemand wusste, hortete sie doch wie eine “pack rat” ihre Bilder und andere Besitztümer. Ehe sie von Maloof gefunden wurden. Einige ihrer bemerkenswerten Fotografien schaffen es natürlich auch in Finding Vivian Maier und selbst wer – wie ich – wenig für die Kunst der Fotografie übrig hat, dürfte die Schönheit von Maiers Bildern anerkennen sowie ihren Blick für das Alltägliche. “Who is behind the work?”, fragte sich John Maloof – und nahm schließlich Kontakt mit einigen Familien auf, für die Maier in der Mitte des 20. Jahrhunderts gearbeitet hat.

Musste der Beobachter zuvor Rückschlüsse auf Maier mittels ihrer Fotografien ziehen, zeichnen ihre ehemaligen Arbeitgeber und die von ihr betreuten Kinder ein genaueres Bild. “She came across as unusual”, formuliert die eine Person höflich. Und eine andere erinnert sich an das klassische Erscheinungsbild von Maier: “always the camera around her neck”. Stets hatte das Kindermädchen seine Rolleiflex griffbereit und knipste neben dem Straßenalltag auch Selbstporträts oder drehte Videos von ihren Gastfamilien. Über Maier selbst wussten diese wenig – nicht ungewollt. Brachte das Kindermädchen ihre Filme zum Entwickeln, gab sie regelmäßig einen anderen Namen an. Und war quasi ein identitätsloses Wesen.

Amüsant wird es, wenn zwei gegeneinander geschnittene Talking Heads darüber debattieren, ob Maiers französischer Akzent falsch war oder nicht. Während Maloof selbst nach Frankreich in eine Kleinstadt nahe der Alpen reist, von wo Maiers Mutter herstammte. Vivian Maiers Bilder sind zu diesem Zeitpunkt bereits in den Hintergrund gerückt. “I find the mystery of it more interesting than her work itself”, sagte zuvor schon eine Frau, die für Maier ihre Bilder entwickelt hat. Fragt sich Finding Vivian Maier an einer Stelle noch, wieso das Kindermädchen Bilder machte, die es nie jemandem zeigte, verraten Talking Heads bald darauf Maloof und Siskel eine andere Seite jener zurückgezogenen Frau, die 2009 im Alter von 83 Jahren verstarb.

“There was a dark side to her”, beschreibt eines der von Maier betreuten Kinder. Manche von ihnen wurden gewaltsam gefüttert, andere in Stadtteilen zurückgelassen – stets um ihnen eine Lektion zu erteilen. Während die einen sie aber als eher kaltherzige Frau bezeichnen, war sie für einige andere wiederum ein Mutterersatz. Wer und wie genau Vivian Maier tatsächlich war, kann auch die Dokumentation nicht klären. Ähnlich wie sich manche Gesprächspartner um ihren Akzent streiten, heißt es sowohl, sie habe in den Straßen die Menschen darum gebeten, zu posieren, als auch, dies sei nicht der Fall gewesen. Der Person Vivian Maier ist der Zuschauer somit nur begrenzt näher gekommen – sie bleibt ein menschliches Mysterium.

Für die Künstlerin hat man dagegen ein besseres Gespür bekommen. Ihre Bilder sprechen von einer künstlerischen Qualität, die auch Finding Vivian Maier innewohnt. Streckenweise erinnert der Film an den thematisch nicht unähnlichen Bill Cunningham New York, mit einer Prise Personenrecherche wie man sie zuletzt in Searching for Sugar Man sah. “She would have been a famous photographer”, lobt die Fotografin Mary Ellen Mark zu Beginn die Arbeiten Maiers. Und auch wenn sie es vermutlich selbst nicht gewollt hätte, ist Vivian Maier nach ihrem Tod nun tatsächlich zu einer solchen geworden – mit weltweiten Ausstellungen. Aber schon Plinius der Jüngere schrieb in seinen Epistulae, Ruhm müsse folgen und darf nicht erstrebt werden.

8/10

18. November 2014

The Signal

Did I find what I was looking for?

Bisweilen gibt es Filme, so sagen Stimmen, in/an die geht man am besten unbefleckt. Mit so wenig Informationen wie möglich. Jüngst war Christopher Nolans Interstellar so ein Fall, wo alleine der Name des Regisseurs Anlass genug für eine Sichtung sein sollte. Auch bezüglich William Eubanks The Signal, hört man, sollte man möglichst unwissend den Zugang suchen. Sicher eine Eigenheit von Mystery-Filmen, deren höchstes Gut ihr innewohnendes Geheimnis ist, welches es bis zur finalen Auflösung zu sichern gilt. Allerdings kann sich so mancher Filmemacher auch selbst ein Bein stellen, wenn das, was folgt, nicht das ganze Aufhebens rechtfertigt. So wie in Nolans Interstellar der Fall. Und in gewisser Weise auch in The Signal.

In diesem befinden sich drei Studenten eingangs auf einem Road Trip. Nic (Brenton Thwaites) und Jonah (Beau Knapp) begleiten Nics Freundin Haley (Olivia Cooke) auf ihrem Umzug von der Ost- and die Westküste der USA. Unterwegs wollen Nic und Jonah, die am MIT studieren, einem Hacker namens NOMAD nachgehen, der an ihrer Hochschule für Aufruhr gesorgt hat und – so zeigt sich – den Kontakt mit beiden sucht. Der kleine Abstecher zu seiner vermeintlichen Adresse verläuft aber alles andere als geplant und plötzlich sieht sich Nic in einem weißen Raum mit dem in einem Schutzanzug auftretenden Dr. Wallace Damon (Laurence Fishburne) konfrontiert. Und allerlei Fragen, darunter was eigentlich passiert ist und gerade vor sich geht.

Wie die Figur wird der Zuschauer dabei im Unklaren gelassen, erst allmählich werden Nic und ihm Puzzlebrocken dargereicht, die er zusammenführen darf/soll. Das Problem von The Signal ist: dies geschieht nicht sonderlich geschickt. Früh zeigt sich hier, dass ein Mystery-Film nur so gut ist, wie das Mysteriöse in ihm. Und hier dürften sich im Falle von Eubanks Film die Geister scheiden, je nachdem, wie groß das eigene Interesse an den gezeigten Vorgängen ausfällt. Zwar gibt Damon eine knappe Erklärung zu den Vorfällen, hieraus ergibt sich aber anschließend nicht sonderlich viel. An Fahrt gewinnt der Film erst zum Ende des zweiten – und weitestgehend verschenkten – Akts, wenn ein Wechsel der Szenerie vorgenommen wird.

Für Eubanks ist sein Film nach eigener Aussage eine Metapher für den Konflikt, Entscheidungen auf rationale und emotionale Weise zu treffen. Dies wiederum geht in The Signal jedoch fast durch die Bank hinweg unter, dafür kommt der Film viel zu gewöhnlich daher. Spätestens wenn nach anderthalb Stunden die Auflösung über den Bildschirm flackert, zeigt sich, dass The Signal ein klassischer Sci-Fi-Film ist, der nur durch seine Umsetzung aus Genrekollegen herauszustechen vermag. Ob das Finale all den Trubel zuvor rechtfertigt – sowohl für das Publikum wie innerhalb der Geschichte – wäre in Zweifel zu ziehen. Gänzlich befriedigend fällt es jedenfalls nicht aus, passt sich insofern aber der drögen Exposition an. Konsequent enttäuschend quasi.

Fans solcher Indie-Genre-Filmen wie sie The Signal, Europa Report und Co. darstellen, mögen sich daran vermutlich nicht stören. Bekanntes in neuer Form kann irgendwie ja auch zufrieden stellen. Wo The Signal in seiner Geschichte nur bedingt heraussticht, gelingt es Eubank dafür, in seiner technischen Umsetzung zu überzeugen. Immer wieder findet er erfrischende und gefällige Einstellungen, gerade im dritten Akt wartet er zudem mit träumerischen Bildmotiven auf, von denen man sich mehr gewünscht hätte. Zumindest von technischer Seite, einschließlich der Trickeffekte, setzt The Signal also Zeichen und gewinnt eine eigene Identität, die zu seiner größten Stärke verkommt. Unterm Strich ist dies aber dennoch nicht ausreichend.

Neben den Bildern verleiht auch Nima Fakhraras Musik dem Film eine eigene Note. Die allesamt sehr jungen Darsteller wiederum geben ebenfalls keinen Grund zum Tadel und auch Laurence Fishburne, sicherlich der profilierteste Beteiligte am Projekt, fügt sich gut in sein Umfeld ein. Somit ist es wohl nur zu bedauern, dass trotz dieser zahlreichen vielversprechenden Umstände aus The Signal kein gelungenerer Film geworden ist, weil ihm dies seine Handlung versagt. Oder genauer gesagt: sein ins Leere verlaufende Mysterium. Womöglich hätte es The Signal also ganz gut getan, wenn er bereits früher, zum Beispiel zur Mitte des zweiten Akts hin, mit offenen Karten gespielt hätte. Aber das hätte man wohl vorher wissen müssen.

4/10

Blu-Ray
Im Gegensatz zum Film weiß dessen Blu-ray zu beeindrucken. Der HD-Transfer wird den oft schön von Eubank eingefangenen Bildern mehr als gerecht, er ist scharf und deutlich im Detail. Auch der DTS-HD-Sound überzeugt, die Dialoge sind klar verständlich und wo Effekte nötig sind, treten diese hervor. Als Extras warten geschnittene Szenen und ein Behind-the-Scenes mit Making-of-Einblick sowie ein Audiokommentar, in dem die Macher auf ihre Einflüsse eingehen (der aber runder hätte sein können). The Signal erscheint am 21. November auf Blu-ray und DVD.

12. November 2014

Borgman

Is het al zover?

Der Fremde im Dorf ist in der Literatur ein durchaus beliebtes Szenario, um Zwietracht zwischen eine Gemeinde zu säen. Stephen King schickte in „Needful Things“ gleich den Teufel in Menschengestalt nach Maine, Asterix und Obelix bekamen es innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Mal mit solchen Gesellen zu tun. Zuerst mit dem manipulativen Tullius Destructivus in „Streit um Asterix“, wenige Bände später dann in „Der Seher“ mit dem verlogenen Lügfix. Das Resultat ist dasselbe: die Gemeinde geht sich selbst an die Gurgel. Alex van Warmerdam konzentriert das genannte Geschehen in seinem Film Borgman von der Gemeinde auf eine Familie. Die wird wider Willen und zugleich doch recht zufällig von einem Nachtalb heimgesucht.

Zu Beginn wird dieser, Anton (Jan Bijvoet) genannt, von einem Priester und zwei Männern aus seinem Wald-Unterschlupf verjagt. Kurzerhand sucht Anton ein wohlhabendes Stadtviertel auf, klingelt dort an Villentüren, um das Bad aufzusuchen. Wird der erste Versuch noch abgeschmettert, schafft er es, an der Haustür von Richard (Jeroen Perceval) und Marina (Hadewych Minis) seine Duftmarke zu hinterlassen. Auf Anspielungen in Richtungen Marina folgt Schläge von ihrem Gatten. “One thing led to another”, wird Richard später sagen. Marina wiederum bringt aus Schuldgefühlen Anton im Gasthaus unter. Aus einem Bad und einer Mahlzeit werden mehrere Tage und aus diesen entwickelt sich schließlich ein ganz eigenes Szenario.

Van Warmerdams Borgman macht sich dabei keine wirkliche Mühe, seine Handlung näher zu erklären. Die Bilder sprechen für sich und Antworten finden sich erst nach und nach und selbst dann bleiben Fragen offen. Was genau Anton und seine Kumpanen Ludwig (Alex van Warmerdam) und Pascal (Tom Dewispelaere) sind, bleibt offen. Zumindest vollends menschlich sind sie nicht, darauf lässt schon die Tatsache schließen, dass sie eingangs von einem bewaffneten Priester gejagt werden. Auch der Sinn ihrer diabolischen Taten wird erst zum Schluss „deutlich“. Zumindest auf den Reichtum, den Richard und Marina mit ihrem durchgestylten Wohngelände und Lebenstil repräsentieren, scheinen es Anton und Co. nicht abgesehen zu haben.

Ihr Einfluss auf das gutbürgerliche Ehepaar und seine drei Kinder sowie das Kindermädchen macht sich jedoch bald bemerkbar. Marina kommt nicht umhin, Anton helfen zu wollen und wird dann von Träumen häuslicher Gewalt geplagt. Dies wiederum wirkt sich auf ihre Beziehung zu Richard aus – was ihr bisweilen gewahr wird. “Sometimes everything seems unreal to me”, gesteht sie und bittet ihren Mann: “We must trust each other.” Sie weiß sehr wohl, dass etwas nicht stimmt, dass die Familie nicht alleine ist. “The shell of something that means harm” sei anwesend – nur realisiert Marina nicht, dass sie über Anton spricht. Dessen Plan ist bereits in Aktion getreten und beginnt sich nun auch auf Richard und Marinas Umfeld auszuwirken.

Mit welcher Nonchalance Anton und seine Truppe vorgehen, sorgt für unterschwelligen Humor. Sei es beim Entledigen unliebsamer Personen oder wenn das Desinteresse nach erreichten Etappenzielen die Familienmitglieder vor den Kopf stößt. Dabei kommt Borgman jedoch nicht umhin, manche Wendung etwas arg zu strapazieren. Da wird dann sogar der Freund des Kindermädchens zum Sohn von Richards Vorgesetzten – und alles nur für zusätzliches Drama. Auch andere Szenen wie ein nächtliches Theaterstück oder ein Ausflug mit den Kindern wirken etwas unnötig aufgebläht. Infolgedessen gerät Borgman in seiner Dekonstruktion eines Familienidylls etwas zu lang, vermag es aber dennoch, die Spannung aufrecht zu erhalten.

Zwar hätte man sich ein größeres Spektrum von Antons Einflussnahme gewünscht, mit einem stärkeren Fokus auf Richard, die Inszenierung des Geschehens alleine weckt aber auch so das Interesse. In gewisser Weise ist Borgman somit ein modernes Märchen – nur eben mit dem düsteren Charakter, wie sie Märchen früher einst besaßen. Dabei ist der Film weder Thriller, noch Drama, Horror oder Fantasy, vielmehr von allem eine Melange, die überzeugt und gefällt. Die Konzentration der Geschichte in ein pompöses Familienhaus und die niederländische Kultur spielen van Warmerdams Film ebenfalls in die Karten. Und letztendlich bestätigt Borgman somit, dass fremden Leuten mit Vorsicht zu begegnen ist. Dem Film dagegen nicht.

7.5/10

6. November 2014

Bai Ri Yan Huo [Feuerwerk am hellichten Tage]

Nur Heulen bringt nichts.

Zwei Polizisten, ein wiederkehrender Serienmord-Fall, der sie auch nach Jahren nicht loslassen will – ein Stilmittel, welches im Thriller-Genre kein Unbekanntes ist. Aus dem asiatischen Raum kennt man es beispielsweise aus Bong Joon-hos Salinui chueock (aka Memories of Murder), nicht unähnlich findet es sich nun in Diāo Yìnáns Bai Ri Yan Huo (dt. Feuerwerk am hellichten Tage) wieder, der im Frühjahr auf der Berlinale den Goldenen Bären mit nach Hause nahm. Darin erzählt der Regisseur von Mordfällen im Norden Chinas, die sich von 1999 bis 2004 erstrecken und das Leben einer Handvoll Figuren für immer verändern werden. Allen voran natürlich das von zwei Polizisten, die der Fall in jenen fünf Jahren nicht loslassen wird.

Der eine von ihnen ist Zhang (Fan Liao), den wir zu Beginn dabei beobachten, wie er einen sexuellen Übergriff auf seine gerade von ihm geschiedene Ex-Frau zu verüben versucht. Er und sein Kollege Wang (Ailei Yu) werden auf den Plan gerufen, als in mehreren Kohleanlagen Leichenteile entdeckt werden. Die Spur führt sie alsbald zu einem Verdächtigen, doch bei der Festnahme sterben zwei Beamte, Zhang wird obendrein verletzt. Daraufhin scheidet er aus dem Dienst aus, heuert als Sicherheitswachmann an und verfällt dem Alkohol. Bis ihn fünf Jahre später Wang aufsucht, als neue Leichen auf der Bildfläche erscheinen. Was sie verbindet: Alle Opfer hatten eine Affäre mit der Reinigungsangestellten Wu (Gwei Lun-Mei).

Deren Mann Liang Zhijun (Wang Xuebing) war obendrein eines der Opfer von 1999, doch hinter der Mordserie scheint weitaus mehr zu stecken, als es den Anschein hat. „Wer mit der was anfängt, den erwischt es“, kommentiert Wang trocken in Bezug auf Wu. Was Zhang nicht davon abhält, mit der introvertierten Frau nach und nach eine Romanze zu beginnen. Seine Motivation hierzu ist vielschichtig. Einerseits, weil sich der einsame Mann vielleicht tatsächlich zu ihr hingezogen fühlt, andererseits, weil er bestrebt ist, mit den traumatischen Ereignissen von 1999 ein für allemal abzuschließen. „Ich suche nur nach irgendwas, was ich tun kann“, sagt er an einer Stelle zu seiner Involvierung. „Sonst wäre mein Leben absolut sinnlos.“

Nach und nach gibt Bai Ri Yan Huo tiefere Einblicke in den vorliegenden Fall, wenn sich die Schlinge um den vermeintlichen Täter enger zu ziehen scheint. Gegenüber anderen Genrefilmen kommt Diāo Yìnáns Beitrag weitaus ruhiger und geerdeter daher, losgelöster als Bongs Salinui chueock und auch weniger atmosphärisch dicht wie Finchers Se7en oder Zodiac. Bisweilen, was allerdings auch der Kamera geschuldet ist, wirkt es, als würde man einen chinesischen Tatort sehen, selbst wenn der Film gerade in seiner zweiten Hälfte mit schönen Farb- und Bildmotiven spielt. Wirklich mitreißen wollen einen die Handlung und seine oftmals fragwürdig agierenden Figuren jedoch nicht. Gerade der laxe Umgang mit Tatverdächtigen bleibt hier nie folgenlos.

Fan Liao, ebenfalls bei der Berlinale ausgezeichnet, gibt dabei einen leicht lethargischen aber überzeugenden Protagonisten ab. Der Film selbst wartet bisweilen zudem mit amüsanten Auflockerungen auf, sei es, wenn plötzlich ein Pferd mitten im Revier steht oder Zhang im Suff sein Motorrad gestohlen wird und er fortan mit dem Roller des Diebs durch die verschneiten Straßen brettert. Auch der Schluss passt sich dem irgendwie an, selbst wenn er inhaltlich verzichtbar gerät und das Ende der Szene zuvor nicht minder, wenn nicht gar besser geeignet gewesen wäre, um einen Schlussstrich unter die Handlung zu ziehen. Ungeachtet dessen verfügt Bai Ri Yan Huo über eine ganz eigene Qualität, die ihn wiederum mit anderen Berlinale-Siegern eint.

Ähnlich wie sich Oscarpreisträger gleichen, zieht sich auch durch Preisträger des Goldenen Bären ein roter Faden. Gleich ob dieser nun Grbavica (2006), La teta asustada (2009), Jodaeiye Nader az Simin (2011) oder Poziția Copilului (2013) heißt. Eine Art Film, die nicht jedermanns Sache ist, keineswegs für ein Massenpublikum, aber auch innerhalb der Arthouse-Sparte oftmals durchaus speziell. Durchweg überzeugend fällt keiner dieser Filme dabei aus, auch nicht Bai Ri Yan Huo, insbesondere innerhalb seines Genres. Zu blass bleiben die Antagonisten, zu leblos die Hauptfigur. Wirklich überraschen mag da auch die Auflösung nicht. Zumindest den Zuschauer lässt dieser Serienmordfall also relativ einfach wieder aus seinen Fängen.

6/10

5. November 2014

Interstellar

This... data makes no sense.

Vor dem Filmstart erfuhr man kaum etwas über Christopher Nolans Interstellar – doch der Name des Regisseurs bürgt nach Gesamt-Einspielergebnissen von mehr als drei Milliarden Euro inzwischen für kommende Umsatzrekorde. Den Erfolg seines neuen Films wird also dessen mangelnde Qualität auch nicht gefährden.  Bereits mit seinen beiden letzten Batman-Filmen überwand Regisseur Christopher Nolan jeweils die Eine-Milliarde-Dollar-Marke an den Kinokassen, mit Inception bewegte er sich ebenfalls in ähnlichen Sphären. Kein Wunder also, dass ihm seitens Warner Bros. bereitwillig weitere Hunderte Millionen Dollar zur Verfügung gestellt wurden, um seine nächste geistige Film-Grütze zu inszenieren.

Nolans Ansehen ist derart groß, daß er seine Werke in 2D in die Kinos bringen kann, wo doch jeder andere Blockbuster in 3D konvertiert wird. Sogar ein Science-Fiction-Drama darf das neue Werk sein – ein lange eher verschmähtes Genre für große Filme. An Filmen wie 2001: A Space Odyssey wollte sich Nolan orientieren, am Ende kamen da noch weit mehr Einflüsse ins Spiel. Der Film erzählt von einer Zukunft, in der den Menschen die Lebensmittel ausgehen. Weizen lässt sich schon lange keiner mehr anbauen, Mais vielleicht noch ein paar Jahre. Sandstürme fegen über das Land, auch über die Farm von Cooper (Matthew McConaughey). Der war einst Astronaut und Ingenieur, doch für beides ist in dieser neuen Welt kein Platz mehr.

Eines Tages machen Cooper und Tochter Murph (Mackenzie Foy) eine seltsame Entdeckung in deren Schlafzimmer. Eine Gravitationsanomalie führt sie per verschlüsselten Koordinaten zu den im Geheimen arbeitenden Überbleibseln der NASA rund um Coopers alten Mentor Prof. Brand (Michael Caine) und dessen Tochter Amelia (Anne Hathaway). Beide berichten Cooper, dass jemand nahe des Saturns ein Wurmloch platziert hat, das in eine andere Galaxie mit erdähnlichen Planeten führt. Dort sucht die NASA nach einer bewohnbaren neuen Heimat für die Menschen. Cooper, der einerseits immer von einer derartigen Mission träumte und andererseits das Leben und die Zukunft seiner Kinder retten will, soll den passenden Planeten finden.

Wie diese Welt wurde, wie sie ist und warum man keine Ingenieure braucht und Geräte wie MRT-Maschinen in Rente versetzt hat, erklärt Interstellar nicht. Die Trostlosigkeit spricht für sich und dient als Motivation der Hauptfigur, nach einer Dreiviertelstunde an der eigentlichen Handlung zu partizipieren. Was wiederum etwas ungeschickt geschieht, selbst wenn Nolan später versucht, der Exposition einen Sinn zu geben. Im Verlauf zeigt sich, dass die Welt des Filmbeginns noch eine der kreativeren Ideen von Nolan und Bruder Jonathan, mit dem er das Drehbuch schrieb, war. Sobald Cooper, Amelia und Co. zu ihrer jahrzehntelangen Mission aufbrechen, werden jegliche originellen Ideen sattsam bekannten Genre-Elemente geopfert.

Inwieweit der Film dabei (astro-)physikalisch korrekt ist, lässt sich schwer sagen. Zwar war mit Kip Thorne ein theoretischer Physiker als Ratgeber an Bord, die meisten Szenen in der fernen Galaxie wirken für den normalen Zuschauer allerdings hanebüchen, wie auch die gesamte NASA-Mission nicht sonderlich kompetent durchdacht scheint. Immer wieder blendet Nolan dabei von Coopers Mission zurück zur Erde, wo seine nun erwachsene Tochter Murph (jetzt: Jessica Chastain) versucht, mit dem Abschied ihres Vaters zurechtzukommen. Jene Vater-Tochter-Beziehung, die bisweilen an Robert Zemeckis Contact erinnert, ist ein essentieller Bestandteil des Films. Murph repräsentiert dabei in Nolans Intention letztlich die gesamte Menschheit.

In einem Film, der mit fast drei Stunden viel zu lang ist, übersteigert sich Nolan in einem Finale, das der bereits zuvor stellenweise haarsträubenden Handlung nochmals die Krone aufsetzt – und das man in dieser Form bereits zu Beginn so befürchtet hat. Es ist fast erschreckend, wie wenig Nolan in Interstellar an eigenständigen Ideen zustande bringt. Am Ende steht eine Handlung, die selten sinnig erscheint, und Figuren, in die das Publikum keine sonderlichen Einblicke erhält. Zumindest weiß die Musik von Hans Zimmer zu gefallen, wie auch die Kameraarbeit von Hoyte Van Hoytema und die Tatsache, dass Nolan nicht nur in 2D, sondern auch auf 35mm gedreht hat. Für einen nennenswerten Beitrag zum Genre ist das aber zu wenig.

3.5/10

1. November 2014

Filmtagebuch: Oktober 2014

ARUITEMO ARUITEMO [STILL WALKING]
(J 2008, Kore-eda Hirokazu)

8/10

BAI RI YAN HU [FEUERWERK AM HELLICHTEN TAG]
(CN 2014, Diāo Yìnán)

6/10

CHILD’S PLAY [CHUCKY – DIE MÖRDERPUPPE]
(USA 1988, Tom Holland)

2.5/10

DEUX JOURS, UNE NUIT [ZWEI TAGE, EINE NACHT]
(B/F/I 2014, Jean-Pierre Dardenne/Luc Dardenne)
6/10

DEXTER – SEASON 1
(USA 2006, Michael Cuesta u.a.)
8/10

DEXTER – SEASON 2
(USA 2007, Marcos Siega u.a.)
8/10

DEXTER – SEASON 3
(USA 2008, Marcos Siega u.a.)
8/10

THE DOUBLE
(UK 2013, Richard Ayoade)
3/10

EDGE OF TOMORROW (3D)
(USA/AUS 2014, Doug Liman)

7/10

ENEMY
(CDN/E 2013, Denis Villeneuve)
8/10

THE EXORCIST [DIRECTOR’S CUT]
(USA 1973, William Friedkin)

5/10

FED UP
(USA 2014, Stephanie Soechtig)
7/10

FRIENDS – SEASON 1
(USA 1994/95, James Burrows u.a.)
7.5/10

FROZEN
(USA 2010, Adam Green)
3/10

THE GIRL WITH THE DRAGON TATTOO [VERBLENDUNG]
(USA/S/N 2011, David Fincher)

4/10

GONE GIRL
(USA 2014, David Fincher)
5.5/10

THE INTERNET’S OWN BOY: THE STORY OF AARON SWARTZ
(USA 2014, Brian Knappenberger)
6/10

INTERSTELLAR
(USA/UK 2014, Christopher Nolan)
3.5/10

IVORY TOWER
(USA 2014, Andrew Rossi)
6/10

THE JUNGLE BOOK [DAS DSCHUNGELBUCH]
(USA 1967, Wolfgang Reitherman)

7/10

MICKEY BLUE EYES
(USA/UK 1999, Kelly Makin)
8.5/10

NIGHTBREED [CABAL – DIE BRUT DER NACHT]
(USA 1990, Clive Barker)

3/10

NIGHTCRAWLER
(USA 2014, Dan Gilroy)
8.5/10

OBVIOUS CHILD
(USA 2014, Gillian Robespierre)
4.5/10

OKTOBER NOVEMBER
(A 2013, Götz Spielmann)
6/10

THE SACRAMENT
(USA 2013, Ti West)
3/10

SE7EN [SIEBEN]
(USA 1995, David Fincher)

7/10

THE SIEGE [AUSNAHMEZUSTAND]
(USA 1998, Edward Zwick)

6/10

SOSHITE CHICHI NI NARU [LIKE FATHER, LIKE SON]
(J 2013, Kore-eda Hirokazu)

7/10

STROMBERG - DER FILM
(D 2014, Arne Feldhusen)
6/10

THEY CAME TOGETHER
(USA 2014, David Wain)
2.5/10

THOR
(USA 2011, Kenneth Branagh)
4.5/10

THOR: THE DARK WORLD [THOR – THE DARK KINGDOM]
(USA 2013, Alan Taylor)

3.5/10

TODA-KE NO KYŌDAI [DIE GESCHWISTER TODA]
(J 1941, Ozu Yasujirô)

5.5/10

TŌKYŌ MONOGATARI [DIE REISE NACH TOKIO]
(J 1953, Ozu Yasujirô)

7/10

THE TWO FACES OF JANUARY [DIE ZWEI GESICHTER DES JANUARS]
(UK/F/USA 2014, Hossein Amini)

5.5/10

UNDER SIEGE [ALARMSTUFE: ROT]
(USA/F 1992, Andrew Davis)

6.5/10

WEDDING CRASHERS [DIE HOCHZEITS-CRASHER]
(USA 2005, David Dobkin)

8/10

ZODIAC [DIRECTOR’S CUT]
(USA 2007, David Fincher)

8/10