29. Mai 2012

Project Nim

This shit is bananas.
(Gwen Stefani, Hollaback Girl)

Fast schon affig ist die Diskussion, inwieweit der Mensch und der Schimpanse miteinander verwandt sind. Oder ob überhaupt, wenn es nach Kreationisten geht. Mal mehr, mal weniger hoch ist die Prozentzahl der übereinstimmenden DNS, im Schnitt heißt es, sie belaufe sich auf fast 99 Prozent. Naheliegend also für Anthropologen, sich eingehender mit unserem scheinbar nächsten Verwandten zu beschäftigen. Wie viel Mensch steckt im Affen beziehungsweise zu wie viel „Mensch“ ist ein Schimpanse fähig? Damit setzten sich Forscher Ende der 1960er und Anfang der 1970er ausgiebig auseinander, als zwei Schimpansen von Menschen aufgezogen und ihnen American Sign Language (ASL) beigebracht wurde.

Einer von ihnen war Nim, der im November 1973 zwei Wochen nach seiner Geburt den Armen seiner Mutter Carolyn entrissen und in die Obhut von Herbert Terrace (Columbia University) übergeben wurde. “She knew what was going to happen better than I did“, erinnert sich Stephanie LaFarge in James Marshs Dokumentation Project Nim. Zuvor hatte Carolyn bereits sechs andere Kinder verloren, Nim würde dabei eine besondere Rolle zufallen. Aufgabe von LaFarge war es, ihn aufzuziehen “as if he were a child“. Dementsprechend stillte die mehrfache Mutter einer wohlhabenden New Yorker Familie der Upper Westside den Primaten sogar. “It was the seventies“, lacht LaFarges Tochter Jenny Lee in die Kamera.

“It was sort of a hippie mentality“, resümiert auch Herbert Terrace rückblickend über die Obhut im Hause der LaFarges. Hier durfte Nim seine ödipalen Komplexe gegenüber der Ersatzmutter ausleben, Alkohol trinken und hin und wieder auch mal an einem Joint ziehen. “We didn’t have to treat him like a child“, sagt nun LaFarge plötzlich entgegen des zuvor verkündeten Versuchziels. Es verwundert also nicht, wenn eine neue Projektassistentin von Terrace, Laura-Ann Petitto, diesen Zustand als “chaos“ beschreibt. Auch Terrace selbst realisierte irgendwann, “I could not do what I called good science in Stephanie’s house“. Nim wurde ihr darauf genauso wie zuvor Carolyn entrissen und Petitto anvertraut.

In neuer Umgebung mit neuen ASL-Lehrern entwickelte sich Nim dann nur bedingt weiter. Auch, weil er mit dem Alter körperlich gefährlicher wurde. Besonders Petitto kritisiert, man könne einem Tier, das einen töten kann, keine menschliche Pflege bieten. Selbst leichte Angriffe und Bisse von Nim sorgten allerdings für keine größeren Probleme. “It didn’t seem to be a cause for alarm“, sagt Terrace. “At that point.” Der Punkt kam dann 1977, als Nim nach Meinung der Forscher zu unberechenbar geworden war. Das Projekt wurde abgebrochen, Nim in eine Primatenversuchsanstalt überwiesen. “And from there on it’s downhill“, nimmt ein späterer Interviewpartner von Marsh den weiteren Verlauf von Project Nim vorweg.

Was folgt, dürfte manchem Kinogänger aus dem letztjährigen Rise of the Planet of the Apes bekannt vorkommen. Der von Menschen aufgezogene Schimpanse wird in einen Käfig abgeschoben, unter Artgenossen, mit denen er zuvor noch nie konfrontiert wurde. Im Gegensatz zu Andy Serkis’ Caesar stiftete Nim dann keine Revolution an, die Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind ansonsten dennoch verblüffend. Sporadisch suchen frühere Freunde und „Familie“ wie Terrace, LaFarge oder der Pfleger Bob Ingersoll den Schimpansen über die Jahre auf. Nach dem Motto: Hey, wie geht’s, auf Wiedersehen. Von Einrichtung zu Einrichtung weitergereicht, fand Nims Odyssee dann erst spät ein glückliches Ende.

Mittels Talking Heads (erfreulicherweise mit allen in das Projekt beteiligten Personen), einer Masse an Archivmaterial und hier und da gelegentlichen Reenactments berichtet Oscarpreisträger Marsh (Man on Wire) von der Chronologie der Ereignisse. Dabei verzichtet er im Gegensatz zu Kollegen wie Charles Ferguson darauf, seine Gesprächspartner zu kritisieren oder mit der Ethik ihres Handelns zu konfrontieren. Marsh gibt sich weniger als Journalist denn Chronist dieses gescheiterten Projekts von Terrace. Bedauerlich ist es jedoch schon, dass er vermeintliche Widersprüche wie in der Aufzucht von LaFarge oder im Vergleich zum ähnlich gearteten Projekt um die Schimpansin Washoe Ende der 1960er nicht thematisiert.

Das Konstatieren der inkonsequenten Herangehensweise von Project Nim fällt in Project Nim daher dem Publikum zu. Wenn die Protagonisten wie eine Bande Hippies wirken, die einem Schimpansen eine Handvoll Begriffe in ASL beigebracht haben und sonst mit ihm kifften, dann, weil dies tatsächlich der Fall war. Bemerkenswert auch, dass obschon hier oftmals von Tierquälerei die Rede ist, niemand einordnen will, wie es ist, einem Affen Drogen zu geben und ihn nach Jahren des ausschließlich menschlichen Kontakts letztlich sich selbst zu überlassen. Somit setzt sich das Scheitern von Terrace, LaFarge, Petitto, Ingersoll und Co. in gewisser Weise auch auf James Marsh und seine Dokumentation der Ereignisse fort.

Am Ende war Nim weniger ein Versuchsobjekt zur Frage, ob ein Schimpanse sich bei Menschenaufzucht wie ein solcher verhält, sondern was aus einem als Mensch aufgezogenen Schimpansen wird, wenn man ihn seiner Umgebung entreißt. Würde man ein menschliches Kind in jungen Jahren von einem Erzieher zum nächsten reichen, mit Alkohol und Joints konfrontieren und es mit fünf Jahren in einem Käfig voller Affen sich selbst überlassen – es wäre ein Skandal. Und dies letztlich nur wegen der knapp ein Prozent Unterschied in unserem DNS-Material. So gesehen verrät uns Project Nim weniger darüber, wie viel „Mensch“ in einem Schimpansen steckt, sondern eher, wie wenig „Mensch“ doch tatsächlich im Menschen.

8.5/10

22. Mai 2012

Moonrise Kingdom

Are your ears pierced?

Das Kino des Wes Anderson ist bevölkert von skurrilen Figuren, durch und durch eigenen Typen, die meisten von ihnen darüber hinaus mit einem Vater-Komplex ausgestattet. Egal ob sie Max Fischer oder Steve Zissou heißen beziehungsweise den Namen „Tenenbaum“ oder „Whitman“ tragen. Es sind verlorene Charaktere in ihrer eigenen kleinen Welt und insofern verwundert es nicht, dass sie auch in Andersons jüngsten Film Moonrise Kingdom wieder zahlreich vertreten sind. Hier muss ein einsamer Insel-Sheriff, trefflich Captain Sharp (Bruce Willis) benannt, die beiden entlaufenen Teenager Sam Shakusky (Jared Gilman) und Suzy Bishop (Kara Hayward) wieder einfangen, ehe ein epochaler Sturm aufzieht.

Über diesen hält uns ebenso wie über die Peripherie der Insel New Penzance ein namenloser Erzähler (Bob Balaban) über dem Laufenden, der mit Vollbart und Mütze aussieht, wie ein entlaufener Matrose von Steve Zissous Belafonte. Getrieben wird Andersons Film dabei von einer sporadisch erzählten Liebesgeschichte zwischen den beiden einsamen Jugendlichen, wie ohnehin jede Figur in Moonrise Kingdom einsam zu sein scheint. Weder Sam noch Suzy haben Freunde, die Ehe von Suzys Advokaten-Eltern (Bill Murray, Frances McDormand) wird mehr für die vier Kinder denn füreinander aufrecht erhalten und auch Captain Sharp und Sams Scout Master Ward (Edward Norton) leben zuvorderst für ihre Arbeit.

In seiner typischen visuellen Art erzählt Anderson nun mit 90-Grad-Schwenks und kräftigen Farben diese kathartische Geschichte, die von der Schrulligkeit ihrer sympathischen Figuren lebt. Mehr weil sie beide von ihrer Umgebung als absonderlich wahrgenommen werden denn weil sie wirklich romantische Gefühle füreinander hegen, finden Sam und Suzy hier zueinander und vollziehen den klassischen Kindertraum der Erzieherflucht. Ihre Motive sind dabei so schemenhaft wie die Figurenzeichnung von Anderson und Drehbuchpartner Roman Coppola. Dem Waisenkind Sam fehlt es an einer Familie oder zumindest an einer Vaterfigur, die er auch nicht in dem väterlichen Scout Master gefunden zu haben scheint.

Suzy wiederum lebt mehr eine kindliche Rebellion aus, ist sie doch als Problemkind gebrandmarkt und Zeugin, der außerehelichen Affäre ihrer Mutter. Wo Sam gar kein Familienleben hat, ist das der Bishops stark gestört, die mit ihren Kindern entweder gar nicht (Mr. Bishop) oder per Megaphon (Mrs. Bishop) kommunizieren. Wenn Sam in einer Szene das Leben mit seinen Pflegeeltern als fast so harmonisch beschreibt wie das von Suzys Familie, klingt dies zwar positiv, erhält jedoch durch den Filmkontext den passenden bitteren Wahrheitsgehalt. Wie in seinen übrigen Filmen, selbst dem Stop-Motion-Werk The Fantastic Mr. Fox, inszeniert (wenn nicht sogar zelebriert) Anderson die dysfunktionale Familie.

Nun ist das bei dem gebürtigen Texaner nichts Neues mehr, wenn die männliche Hauptfigur Sam wie die Kollegen in Rushmore oder The Darjeeling Limited über daddy issues verfügt, Außenstehende rund um Sharp und Ward sich wie in The Life Aquatic with Steve Zissou nach sozialer Aufnahme sehnen oder Suzy mit leeren und dunklen Lidschatten unterlegten Augen wie in The Royal Tenenbaums in die Kamera blickt. Wes Anderson erfindet sich nicht neu, sondern lediglich das Grundgerüst seiner Handlung. Das einzig Neue ist, dass Figuren wie Sharp und Ward mit Willis und Norton besetzt wurden, wo man eigentlich eher einen der üblichen Verdächtigen Andersons wie Dafoe oder einen der Wilsons erwartet hätte.

Für Fans von Anderson dürfte dies allerdings wenig problematisch ausfallen. Zu amüsant und süß sind die beiden jungen Hauptdarsteller, zu gelungen viele Szenen ihres Regisseurs. Allen voran der Auftritt von Jason Schwartzman als geldgieriger Fähnleinführer eines benachbarten Camps, aber auch Wes Andersons key player Bill Murray darf dank seiner herrlich zurückgenommenen Figur brillieren. Etwas müder, aber nicht zwingend wirklich störend, fallen da die Darstellungen von McDormand, Willis und Norton aus, zu denen sich auch Harvey Keitel und Tilda Swinton in zwei wenig erinnerungswürdigen Rollen gesellen. Dies ist primär die Show von Gilman und Hayward und beide Teenager reüssieren eindrucksvoll.

All die technische Raffinesse sowie der Charme von Handlung und Figuren kaschieren aber nicht, dass Moonrise Kingdom, obschon eine Steigerung zum trägen The Fantastic Mr. Fox, nicht die Klasse Andersons früherer Werke erreicht. Im Vergleich zu diesen wirkt das Ende hier so planlos zusammengeführt (wenn auch in sich schlüssig), wie der Film zu Beginn von der Leine gelassen wurde. Es zeichnet Anderson jedoch aus, dass selbst ein „lediglich“ solider Film bei ihm noch besser gerät als so manches starke Werk in der Vita eines anderen Regisseurs. Dennoch darf sich der Texaner im nächsten Projekt thematisch ruhig mal etwas öffnen. Sonst bleibt er selbst ein verlorener Charakter in seiner eigenen kleinen Welt.

8/10

17. Mai 2012

Into the Abyss

But you can be proud of this moment.

Das Zittern war groß, würde es auch dieses Jahr wieder reichen? Immerhin hatten es andere Nationen nicht versäumt, ordentlich aufzuholen, während die USA leicht gestrauchelt waren. Am Ende dann das Ergebnis: Der fünfte Platz in der weltweiten Rangliste konnte gesichert werden! Die USA blieben somit auch 2011 das Land, das in der Zahl seiner Exekutionen nur von vier anderen Nationen übertroffen wurde. Lediglich Saudi-Arabien, Irak, Iran und mit weitem Abstand China töteten im vergangenen Jahr mehr Menschen als die US-Bundesstaaten. Trauer herrscht dagegen bei Nordkorea, das gegenüber 2010 aus den Top 5 flog.

Angesichts der „Konkurrenz“ mag man durchaus den Kopf schütteln, wenn die USA als einziges G8-Land weiterhin die Todesstrafe verhängen (und ausüben) und damit in einem Zug mit der Achse des Terrors von Nordkorea bis Iran genannt werden dürfen. Besonders in Rick Perrys texanischem Bundesstaat nimmt man sich der Todesstrafe beherzt an, wurden dort doch seit 1976 vier Mal so viele Menschen hingerichtet wie im zweitplatzierten Virginia. Ohnehin tötete Texas in 36 Jahren (von 1976 bis 2012) rund 64 Prozent der Zahl an Menschen wie in den über 360 Jahren (von 1608 bis 1976) zuvor insgesamt. Im Schnitt sind es 13 pro Jahr.

Vor zwei Jahren exekutierte Texas sogar 17 Menschen (genauso viel wie offiziell Syrien) und einer von ihnen war der 28-jährige Michael Perry. Im Oktober 2001 soll er Sandra Stotler in ihrer Garage in Montgomery, Texas erschossen haben, um sich ihres roten Camaro zu bemächtigen. Später starben noch Stotlers jugendlicher Sohn Adam sowie sein Freund Jeremy Richardson durch die Hand von Perrys Komplizen Jason Burkett. Gut eine Woche nach der Tat wurden Perry und Burkett von der Polizei verhaftet und überführt. Während Burkett für die Morde an den Jugendlichen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, erhielt Perry wiederum die Todesstrafe.

Rund eine Woche vor ihrer Ausführung am 1. Juli 2010 unterhielt sich Perry mit Regisseur Werner Herzog für dessen Film Into the Abyss über die Tat. Sozusagen. “I don’t want to get into the details of what happened“, erklärt der Deutsche in seinem bajuwarischen Akzent durch die Trennscheibe hindurch dem immer noch jugendlich aussehenden Perry, der zu Beginn des Films mit seiner höflichen Art, seinem unschuldigen Lächeln und seiner Gewissheit, als Christ ins Paradies zu kommen, Begnadigung hin oder her (“I’m either going home or home), gar nicht wie ein kaltblütiger Mörder wirken will. Aber wer tut dies schon?

Obschon sowohl Perry als auch Burkett jeweils dem anderen das ihnen zur Last gelegte Verbrechen in die Schuhe schieben, hat Herzog im Gegensatz zu seinem Freund und Kollegen Errol Morris und dessen The Thin Blue Line kein Interesse, den alten Fall aufzurollen. Für Herzog geht es um etwas anderes, um den menschlichen Abgrund, der sich im Allgemeinen wie in den ausgewählten texanischen Orten im Speziellen auftut. Der Abgrund, der Perry und Burkett einst ausgespuckt hat und anschließend wieder verschlang. Into the Abyss wurde von vielen Kritikern als Film gegen die Todesstrafe gesehen, was er natürlich auch ist, aber noch viel mehr.

Herzog beschäftigt sich natürlich mit dem Mordfall. Er besucht die verurteilten Täter, die Familien der Hinterbliebenen, den Tatort und die Stelle, an der die Leiche von Sandra Stotler in einen See geworfen wurde. “This lady had a car that they wanted“, kürzt Lieutenant Damon Hall von der Montgomery Polizei die Tat auf einen Satz herunter. Herzog bemerkt die vermeintliche Idylle des Ortes und ihren Kontrast zu dem verübten Verbrechen. “A gated community“, pflichtet ihm Hall bei. “You would associate that with security.“ Doch der menschliche Abgrund kennt keine geschlossenen Wohnanlagen, keine Sicherheit – und auch keine Freunde.

“I introduced him to the people who killed him“, presst ein den Tränen naher Charles Richardson hervor, als er mit Herzog über den Tod seines kleinen Bruders Jeremy spricht. Wie sich herausstellt, Herzog befasst sich nur marginal damit, waren Burkett und die Opfer miteinander bekannt. Ohnehin fängt Into the Abyss eine kleine, in sich geschlossene Welt ein. In der jeder jedem schon mal begegnet ist, vermutlich auch im Gefängnis. Egal ob Perry und Burkett, dessen Bruder Chris oder Charles Richardson – sie alle saßen bereits einmal ein. Der Film skizziert eine Welt, in der die Menschen sich selbst überlassen sind. Ohne Vorbilder oder Ziele.

Dabei hat Herzog wie Morris auch ein Händchen für die skurrilen Momente, zum Beispiel wenn er Jared Talbert, einen Einwohner von Conroe, Texas, davon schwadronieren lässt, wie er angeblich einmal 30 Minuten bevor er zur Arbeit musste, tätlich angegriffen worden sei. Aus heiterem Himmel hätte ihm jemand einen ellenlangen Schraubenzieher seitlich unter die Achsel in den Brustkorb gerammt. Weil Talbert jedoch nur ein bisschen blutete, war er statt ins Krankenhaus zur Arbeit gegangen. “I had a lucky day“, sagt der ehemalige Analphabet und Knacki einem amüsierten Herzog und rotzt wie so oft während des Interviews hinter sich auf den Boden.

Vom Absurden bietet Into the Abyss wahrlich genug, allen voran hinsichtlich der Familie der Burketts. Erst 2041 hat Jason Burkett eine Chance auf Bewährung, dann wäre er fast 60 Jahre alt. Nichts Neues in seiner Familie, sein Vater sei ebenfalls seit 40 Jahren im Gefängnis. Und zwar in der Vollzugsanstalt direkt gegenüber, wie er Herzog berichtet. Einen Schnitt später haben wir ihn vor uns, Delbert Burkett, der die Mehrheit seines Lebens hinter Gittern saß, die schlimmste Strafe jedoch im Schicksal seines Sohnes ausmacht. “I’m as much at fault as he is“, gesteht er Herzog. “I was never there.” Eine Ausnahme gab es dann aber doch.

Bei der Gerichtsverhandlung seines Sohnes flehte er die Jury um dessen Leben an, nahm die Schuld für dessen Taten auf sich und würde auch bereitwillig die Haftstrafe des Jüngsten absitzen. Und tatsächlich erhielt Jason Burkett nicht die Todesstrafe, sondern lebenslänglich. “But you can be proud of that“, konsolidiert Herzog den Familienvater. Für den allerdings ist dies nur ein schwacher Trost, berichtet er doch traurig von einem Thanksgiving, das er mit seinen ebenfalls inhaftierten Söhnen Jason und Chris verbringen musste. “It was just total failure. That’s what it felt like“, gibt er seinen Gefühlen Worte. “I don’t think it gets much lower than that.”

Into the Abyss jagt den Zuschauer wahrlich hinab in den Abgrund. Was lief schief bei den Burketts, Perrys und Talberts in Texas? Der seit dem Alter von 13 Jahren drogensüchtige Delbert hatte ein Football-Stipendium, schmiss jedoch im Abschlussjahr die Schule. Was wäre wohl aus seinen Söhnen und ihm geworden, wäre einiges anders verlaufen? Vielleicht genauso wenig, stammt doch auch Perry aus einem soliden Elternhaus und verfiel dennoch den Drogen. “I chose that which I shouldn’t have“, blickt dieser auf die Umstände, die zum Mord an Stotler führten, zurück. Der Abgrund ihres Lebens führte sie alle in den Abgrund des Todes.

Die Leidtragenden sind bei Herzog jedoch nicht nur die Gefängnisinsassen. Wie die Interviews mit den Hinterbliebenen zeigen, sind auch die Familien der Opfer Gefangene. Und zwar ihrer Trauer. Die Tochter von Stotler hat kein Telefon mehr im Haus, um schlechte Nachrichten zu vermeiden, der Bruder von Jeremy Richardson sieht sich mitschuldig an dessen Tod. Sie wurden genauso in den Abgrund gezerrt, wie die Angestellten des Todestraktes, die per Gesetz Menschen ihres Lebens berauben. 120 waren es bei Fred Allen, einem ehemaligen Captain eines Todeshauses, ehe er vor 12 Jahren seinen Job kündigte und damit auch seine Rente verlor.

“Nobody has the right to take another life“, so Allens Erkenntnis. Und im Grunde denkt Vater Ricardo Lopez, ein ebenfalls im Todestrakt Angestellter, ähnlich. Er bricht zu Beginn in Tränen aus, als er über seine Arbeit und all die Menschen sprechen muss, die er in den Tod begleitet hat. “Life is precious“, resümiert der Priester. Wieso Gott die Todesstrafe erlauben würde, fragt ihn Herzog. “I don’t know the answer“, sagt Lopez, während die Kamera von Peter Zeitlinger über den Gefängnisfriedhof schwenkt. Vorbei an all den namenlosen Kreuzen, auf denen lediglich die Lebensspanne und Häftlingsnummer der darunter Liegenden vermerkt ist.

Das passt ganz gut zu Into the Abyss, der quasi im Vorbeigehen seine Kritik zur Todesstrafe loswird. Da spricht Herzog kurz gegenüber Perry an, dass dieser erst eine medizinische Untersuchung bestehen müsse, die ihn als fit genug zum Sterben deklariert, ehe er seine Todesspritze erhält. Und er konfrontiert Stotlers Tochter, die Perrys Tod als Genugtuung empfindet, mit der Frage, ob Jesus das auch so sehen würde? Vermutlich nicht, gesteht die gläubige Frau. Aber im Gottesstaat der USA ist auch Gott scheinbar nur ein kleines Rädchen im System. “There’s always a reason why God allows things to happen“, redet sich Vater Ricardo Lopez ein.

Sicher hätte Herzog oft kritischer nachhaken können, auch wenn seine freundlich-offene Art wohl mehr Redebereitschaft beim Gegenüber erzeugt hat. Etwas skeptisch ist er dann aber doch, als er die schwangere Melyssa Burkett, die Jason erst im Gefängnis heiratete, nach dem Vater ihres Sohnes befragt. Jason wäre das natürlich, Herzog mutmaßt Samenschmuggel. “You live on through your children“, sagt Melyssa. “And the love that you put into them projects to the world.“ Doch Jason wird für seinen Sohn genauso abwesend sein, wie Delbert für ihn. Hoffentlich müssen sie nicht auch eines Tages Thanksgiving hinter Gittern feiern.

7/10

8. Mai 2012

Marley

Could you be loved and be loved?
(“Could You Be Loved?”, Uprising, 1980)

Je größer der Mann, desto umfangreicher seine Biografie. So beanspruchte Nelson Mandelas „Mein langer Weg zur Freiheit“ über 800 Seiten. Ganz so ausführlich würde eine Autobiografie von Bob Marley vermutlich nicht werden, nicht zuletzt, da die Reggae- und Rastafari-Legende bereits 1981 mit 36 Jahren an Krebs verstarb. Dennoch benötigte Oscarpreisträger Kevin Macdonald beinahe zweieinhalb Stunden, um auch nur oberflächlich das Leben und Schaffen Marleys anzureißen. Nachdem sowohl Martin Scorsese als auch Jonathan Demme abgewunken und eine Dokumentation über Robert Marley aufgegeben hatten, versuchte sich der Schotte Macdonald an einer Chronologie von dessen Leben. Das Ergebnis, Marley, reüssiert und scheitert dabei zugleich. Aber: Don’t worry about a thing.

Marleys Geschichte beginnt im Dörfchen Nine Mile des im Inneren von Jamaika gelegenen Saint Ann Parishs. Hier erinnert einer seiner dort noch ansässigen Cousins daran, dass Robert als Kind gehänselt wurde, da er aufgrund seines weißen Vaters Norval als „Mischling“ galt. In einer kleinen Hütte lebend half er der Mutter aus, freundete sich mit dem von der Küste zugezogenen Neville Livingston an, der später zu Bunny Wailer werden würde, und begann sich an Musik auszuprobieren. Später zog die Familie nach Kingston und lebte im Armenviertel Trench Town, während Marley als Jugendlicher die Schule schmiss und als 18-Jähriger mit Livingston, Peter Tosh und anderen eine Band gründete, die sich irgendwann The Wailers nannte. Es folgten erste Erfolge in der Heimat und später auch in Europa.

Der internationale Durchbruch mit „No Woman, No Cry“ (1975) führte zu Tourneen in Europa und den USA, die wiederum dazu, dass erst Livingston und dann Tosh die Gruppe wegen Meinungsverschiedenheiten verließen. Marley ließ sich davon nicht unterkriegen, engagierte sich Mitte der 1970er mit Benefiz-Konzerten für den Frieden in seiner gewaltgeladenen Heimat im Kampf zwischen Rechten und Linken genauso wie 1980 bei der Unabhängigkeit von Simbabwe. Nebenbei unterstützte er seine Landsleute von seinem jamaikanischen Anwesen in der 56 Hope Road, glaubte eine Hautkrebsdiagnose an seinem Zeh aus dem Jahr 1977 besiegt zu haben und zeugte von 1967 bis 1978 insgesamt neun Kinder mit sieben Frauen. Wie sagte es Marley selbst: Love the life you live and live the life you love.

Auf dem Weg durch dieses Leben greift Macdonald nur selten auf Videomaterial von Marley selbst zurück. Vielleicht war nicht genug vorhanden, aber die vielen Talking Heads machen dies meist wett. Von Familienmitgliedern wie Marleys Mutter, seiner Witwe Rita sowie den Kindern Cedella und Ziggy über Freunde und Weggefährten wie Neville Garrick, Allan Skill Cole oder Bunny Wailer bis hin zur deutschen Krankenschwester Waltraud Ullrich, die Marley während eines Aufenthalts in einer bayrischen Krebsklinik pflegte. Sie zeichnen je nach Sichtweise das Bild eines zugleich offenen und warmherzigen, aber auch strengen Menschen, der für seine Musik lebte und bis zuletzt glaubte, er könne den Krebs besiegen. Das Bild einer Legende, die wie Jeder Fehler besaß.

So zeichnen besonders die Kinder ein ambivalentes Bild ihres Vaters. Die Eltern ihrer Freunde verboten das gemeinsame Spielen, da Bob und Rita stets bekifft seien, Marley wiederum wies (vielleicht aufgrund der eigenen Erfahrungen) darauf hin, dass sie keine Freunde bräuchten, da sie Geschwister hätten. Auch die Abwesenheit und Promiskuität des Vaters dürfte ein Problem gewesen sein, wenn auch Rita und die Kinder nur teils darauf eingehen. Flexibel und stur zeigte sich Marley auch gegenüber Livingston und Tosh was die Vermarktung ihrer Band angeht, weshalb es etwas schade ist, dass Macdonald Bunny Wailer nach der abgehandelten Band-Trennung nicht mehr zu Wort kommen lässt. Ohnehin schrammt Marley oft nur mit Glück an der Hagiografie vorbei, so kritikarm gerät er.

Zugleich arbeitet Macdonald nahezu jedes Ereignis und Thema oberflächlich ab. Zum Beispiel die Bedeutung für Marley, dass er schwarz und weiß zugleich war, von der Familie seines Vaters verstoßen wurde, wie er über seinen Krebs wirklich dachte und wie er seinen Landsleuten insbesondere in den unruhigen Zeiten der 1970er gegenüberstand. Vieles kann man sich anhand der Informationen in Marley zusammenreimen, ausgiebig setzt sich der Film aber mit keinem Thema auseinander. Macdonald will nicht den Familienmenschen Marley dokumentieren, nicht seine Rolle für die Geburt des Reggae oder die Verbreitung der Rastafari-Bewegung, Marley will einen Überblick über das Leben der Musiklegende bieten, von der Geburt bis zum Tod. Allgemein statt speziell sein also.

Sichtlich schwerer fällt dem schottischen Regisseur die Nachzeichnung eines ganzen Lebens, wo er zuvor in seinen gerühmten One Day in September (1999) und Touching the Void (2003) lediglich die Ereignisse einiger Tage aufarbeiten musste. Fraglich, ob man einer Vita wie der von Bob Marley überhaupt in einem Film, selbst wenn dieser gut 150 Minuten dauert, vollends gerecht werden kann. Macdonald jedenfalls gelingt dies nur bedingt, dahingehend, dass Marley einen Überblick verschafft wie ein Lexikoneintrag. Wen es nach weiteren Details gelüstet, der muss zu einer literarischen Biografie greifen. Und als Überblick fällt die Dokumentation inhaltlich wie inszenatorisch durchaus gelungen aus. Was sie quasi zu einer Art filmbiografisches Buffet macht und von allem ein wenig bietet.

Geschickt wechseln sich Archivmaterial, Stills, Konzertausschnitte, Landschaftsaufnahmen von Jamaika und Talking Heads ab, gewürzt mit Auszügen aus der Discografie von Bob Marley und The Wailers. Die über zwei Stunden verstreichen dabei ohne wirklich Längen, was nicht zuletzt der überzeugenden Montage, aber auch der faszinierenden Person Marleys zu verdanken ist. Erfrischend zudem, dass Macdonald hier mal nicht auf Reenactment zurückgreifen muss. So ist Marley vielleicht nicht die beste Dokumentation, die man über die Ikone hätte drehen können, dennoch ist sie unterhaltsam und grundsätzlich informativ geworden. “Man is a universe within himself”, habe Bob Marley mal gesagt. Und nach Marley weiß man: Je größer der Mann, desto umfangreicher sein Universum.

7/10

1. Mai 2012

Filmtagebuch: April 2012

APOCALYPTO
(USA 2006, Mel Gibson)
5.5/10

THE ART OF FLIGHT
(USA 2011, Curt Morgan)
5.5/10

THE AVENGERS
(USA 2012, Joss Whedon)
4.5/10

DAYS OF HEAVEN
(USA 1978, Terrence Malick)
8/10

EVIL DEAD II
(USA 1987, Sam Raimi)
7/10

THE FAST AND THE FURIOUS: TOKYO DRIFT
(USA/D 2006, Justin Lin)
5.5/10

FOOD FIGHT
(USA 2008, Christopher Taylor)
6.5/10

GOYA’S GHOSTS
(USA/E 2006, Miloš Forman)
8/10

GRBAVICA [ESMAS GEHEIMNIS]
(BIH/HR/A/D 2006, Jasmila Žbanić)
6/10

HENRY: PORTRAIT OF A SERIAL KILLER
(USA 1986, John McNaughton)
5.5/10

HOBO WITH A SHOTGUN
(CDN 2011, Jason Eisener)
4.5/10

THE LAKE HOUSE
(USA/AUS 2006, Alejandro Agresti)
6/10

THE PIRATES! IN AN ADVENTURE WITH SCIENTISTS
(UK/USA 2012, Peter Lord/Jeff Newitt)
5.5/10

RAMBO
(USA/D 2008, Sylvester Stallone)
5/10

RAMBO: FIRST BLOOD PART II
(USA 1985, George P. Cosmatos)
5.5/10

RAMBO III
(USA 1988, Peter MacDonald)
5.5/10

SHERLOCK: THE BLIND BANKER
(UK 2010, Euros Lyn)
6/10

SHERLOCK: THE GREAT GAME
(UK 2010, Paul McGuigan)
7/10

SHERLOCK: THE HOUNDS OF BASKERVILLE
(UK 2011, Paul McGuigan)
6/10

SHERLOCK: THE REICHENBACH FALL
(UK 2011, Toby Haynes)
6/10

SHERLOCK: A SCANDAL IN BELGRAVIA
(UK 2011, Paul McGuigan)
6.5/10

SHERLOCK: A STUDY IN PINK
(UK 2010, Paul McGuigan)
7.5/10

TABU - ES IST DIE SEELE EIN FREMDES AUF ERDEN
(A/D/L/F 2012, Christoph Stark)
7/10

THE THING FROM ANOTHER WORLD
(USA 1951, Christian Nyby/Howard Hawks)
6/10

THE THING
(USA 1982, John Carpenter)
8/10

THE THING
(USA/CDN 2011, Matthijs van Heijningen Jr.)
5/10

TOMBOY
(F 2011, Céline Sciamma)
7.5/10

TOUCHING THE VOID
(UK/USA 2003, Kevin Macdonald)
8/10

DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN
(D 2012, Dominik Graf)
4/10

UTOPIA LTD.
(D 2011, Sandra Trostel)
7/10

WES CRAVEN’S NEW NIGHTMARE
(USA 1994, Wes Craven)
6/10