16. August 2011

Another Year

My looks work against me.

Das perfekte Liebesglück ist eine schwer zu findende Sache. Ganz besonders, wenn es über Jahrzehnte hinweg ins hohe Alter bewahrt wurde. Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen) sind ein solches perfektes Paar. Glücklich in einem Londoner Vorort lebend, erfreuen sie sich an der Arbeit in ihrem Schrebergarten und an den gelegentlichen Besuchen ihres wohlerzogenen Sohnes Joe (Oliver Maltman). Es ist eine absurd harmonische Familie, was sich gerade dadurch feststellen lässt, dass sie über weniger harmonisch lebende Freunde verfügt. Allen voran Mary (Lesley Manville), die ihre Einsamkeit in Alkohol ertränkt und in den vier Wänden von Arbeitskollegin Gerri ein zweites Zuhause gefunden zu haben scheint.

“It’s really lovely the way Tom and you do everything together”, erkennt Mary zu Beginn neidisch an. “You’re both such lovely people.” Gerade in Gegenwart der beiden Freunde schwappt Marys Sehnsucht über, die peinlichen Avancen gegenüber dem fast halb so alten Joe dürfen als Versuche gelten, am Glück dieser Familie teilzuhaben. Regisseur Mike Leigh sieht sie in Another Year als Opfer von zugetragenen Vorstellungen. Jung und sexy sind Eigenschaften, die Mary nicht mehr erfüllt. Und so wie Joe ihre Avancen ausschlägt, lässt Mary wiederum den übergewichtigen Ken (Peter Wight), einen weiteren einsamen Freund der Familie, auflaufen. Der ertränkt seinen Kummer ebenso in Alkohol und Zigaretten wie Mary selbst.

In Another Year wimmelt es von derart unglücklichen Figuren, zu denen auch Imelda Staunton am Anfang zählt. Als müde Ehefrau und Mutter sehnt sie sich nach Tabletten für ihre Schlaflosigkeit und ordnet ihr Wohlbefinden auf einer Zehnerskala lediglich bei Eins ein. Ein anderer Freund von Tom und Gerri hadert unterdessen mit der Krankheit seiner Frau, während Toms Bruder Ronnie (David Bradley) die Seinige im Verlauf des Films verstirbt. Der Leichenschmaus entwickelt sich zur ultimativen Kontrastdarstellung. Wo das Haus von Tom und Gerri voller Glück, Wärme und Leben ist, in das Sohn Joe und Freunde gerne einkehren, ist Ronnies Haus kalt und karg, die Beziehung zu seinem einzigen Sohn Carl (Martin Savage) eklatant gestört.

Stets kontrastiert Mike Leigh die perfekte Ehe mit der tristen Einsamkeit ihrer Umgebung. “Life’s not always kind, is it?”, resümiert Mary in einer Szene etwas betrübt. Letztlich verlangt es sie nur nach jemandem, mit dem sie reden kann. Ein Wunsch, dem besonders Gerri in der ersten Hälfte des Films noch bereitwillig Folge leistet. Mary ist eine bemitleidenswerte Figur, und das nicht nur im negativen Sinne. Ihr tragisches Leben berührt, wenngleich ihr bisweilen peinliches Benehmen zugleich dazu führt, dass sich selbst der Zuschauer für sie geniert. Höhepunkt ist ein überraschender Besuch von Joe und seiner neuen Freundin (Karina Fernandez), deren Anwesenheit die Eifersucht Marys auf ihre Umgebung eskalieren lässt.

Eingebettet wird der Film in vier Jahreszeiten, die kommen und gehen und somit das Titelgebende weitere Jahr (engl. another year) bilden. Mike Leigh folgt hierbei keiner konkreten Geschichte, die Handlung setzt scheinbar in einem beliebigen Jahr im Leben der Hauptpersonen ein. Sein Film lebt anschließend auch weniger von der weitestgehend ruhigen Handlung, sondern von den überzeugenden Figuren. Wo manche Charaktere aus Hollywood nie über den Status eindimensionaler Karikaturen hinauskommen, wirken Leighs Geschöpfe wie authentische Menschen, die leben, atmen und fühlen. Was man über sie wissen muss, erfährt das Publikum meist in einer einzigen Einstellung. Eine Seltenheit in der heutigen Kinolandschaft.

Tom und Gerri sind hierbei lediglich das Kontrastmittel – das Idealbild des perfekten Lebensglücks, nach dem die Marys, Kens, Ronnies und Carls wie nach Platons Idee nur streben können. In ihrem Schmerz liegt die Stärke des Films, sei es David Bradleys ausdrucksloses Gesicht oder Peter Wights bemühte und doch zum Scheitern verurteilte romantische Avancen. Eigentlicher Star ist jedoch Lesley Manville, der es gelingt, eine Person zu verkörpern, der man zwar einerseits helfen will, die man andererseits aber wohl nicht in der eigenen Küche haben wollte. Leigh inszeniert hier mit Another Year wahres und buchstäbliches Charakterkino, dessen Geschichte letztlich da endet, wo sie begonnen hat: in einem Jahr von vielen.

8/10

The Tillman Story

I’m Pat-fucking-Tillman.

Kriegshelden finden immer dann nützliche Verwendung, wenn es mit der Moral daheim nicht so gut bestellt ist. Und wer kein Kriegsheld ist, wird eben zu einem gemacht. Wie im Fall von Pat Tillman Jr., dem Poster-Boy der US-Armee, der seine NFL-Karriere fürs Vaterland aufgab und dies mit dem Leben bezahlte. Amir Bar-Lev arbeitete die Hintergründe der Geschehnisse auf – und welche Rolle die US-Regierung bei Tillmans Tod spielte. Einen Menschen wie es Pat Tillman Jr.  war, könnte man nicht backen, selbst wenn man wollte. Ein stählerner Kerl von 1,80 Meter, strammer Oberkörper, tough, risikofreudig. Ein Outdoor-Typ, gutaussehend, sympathisch, freundlich, intelligent und fürsorglich. Pat lernte seine Frau Mary im Alter von vier Jahren kennen, seit der Schule waren sie ein Paar, heirateten mit 25.

Für seine jüngeren Brüder war Pat ein Idol, jemand, zu dem sie aufblicken konnten. Für das Football-Team der Arizona Cardinals ein unverzichtbarer Defensivspieler, der besser dotierte Angebote von Konkurrenten ausschlug. Kurzum: Pat Tillman war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Das wurde den Amerikanern spätestens bewusst, als der NFL-Spieler nach den Attentaten des 11. September 2001 einen Vertrag über 3,6 Millionen Dollar ablehnte und sich stattdessen mit Bruder Kevin im Juni 2002 zur Armee meldete. Er war „eine Person der Öffentlichkeit, die sich nicht scheute, offen ihre Meinung zu sagen“, verrät uns Schauspieler Josh Brolin, der in The Tillman Story den Erzähler gibt. Aber warum er entschloss, in den Krieg zu ziehen, bleibt ein Geheimnis. Wie auch fast der Umstand seines Todes.

Am 22. April 2004 starb Pat Tillman während eines neuerlichen Einsatzes in Afghanistan. „Zerfetzt in einem Sturm von Hunderten Kugeln“, berichtete Uwe Schmitt ein halbes Jahr später für Die Welt. Seine Rangers-Einheit sei angegriffen worden, hieß es, und Tillman wäre so tapfer gewesen, dass Amerika seinem berühmtesten Soldaten anschließend nicht nur das Purple Heart verlieh, sondern sogar den Silver Star, die dritthöchste Auszeichnung, die ein Soldat erhalten kann. Dass es Tillmans Kameraden waren, die ihn erschossen, kam erst fünf Wochen später heraus. Der Ex-Soldat Stan Goff, mit langjähriger Erfahrung (u.a. in Nicaragua), beschreibt die Stimmung unter den jungen Soldaten der US-Armee als “locker room atmosphere”. 19-Jährige wollen nicht nachdenken, sie wollen ihre Grenzen ausreizen.

Und selbst als die Army Rangers wussten, dass sie es mit ihren eigenen Leuten zu tun hatten, beendeten sie nicht ihr Feuer auf ebendiese. „Ich war aufgeregt“, begründete einer von ihnen, ein anderer gab zu Protokoll: „Ich wollte einfach weiter im Gefecht bleiben.“ Dass ihnen einer ihrer Kameraden zurief, er sei “Pat-fucking-Tillman”, störte sie dabei nicht weiter. Für die Bush-Regierung war ein toter Tillman genauso gut wie ein lebendiger – wenn nicht gar besser. Sein Tod müsste nur richtig instrumentalisiert werden. Für Vaterland und Ehre sei der Football-Star gestorben. Für die Freiheit des amerikanischen Volkes. Tillman wurde in der Folge von der Armee zum Kriegs-, von den Medien und der Nation zum Volksheld deklariert. „Jeder wollte ein Stück von ihm haben“, erinnert sich sein jüngster Bruder Richard.

„Würden die irgendwas über meinen Sohn wissen, hätten sie nicht getan, was sie getan haben“, klagt Tillmans Mutter. Ein Einzelfall war dies jedoch nicht. Bereits ein Jahr vor Tillmans Tod hatte die Armee eine Rettungsmission für Private First Class Jessica Lynch organisiert, die von irakischen Truppen entführt worden war. Die Rettungsmission wurde jedoch so lange hinausgezögert, bis eine Kamera vor Ort war, die das Ganze für die heimische Bevölkerung aufzeichnen konnte. „Es musste zu einer Moralität werden“, urteilt Ex-Soldat Stan Goff. Nur widerstrebend gestand die Regierung die Vertuschung von Tillmans Tod durch den Eigenbeschuss ein, jahrelang versuchte unterdessen Tillmans Familie vergeblich, die wahren Schuldigen in Regierungskreisen zur Verantwortung zu ziehen.

Amir Bar-Lev arbeitet die Geschehnisse um Tillman chronologisch auf und bewahrt so die natürliche Dramaturgie der Geschichte. Immer mehr Details der Vorfälle kommen ans Tageslicht, Archivmaterial wechselt zu Talking Heads der Familie und Kameraden, während das heroische Bild von Tillman immer gewaltiger wird. Er selbst war Agnostiker, aber religiösen Menschen gegenüber aufgeschlossen und plante, 2004 den Demokraten John Kerry zu wählen, nachdem er während eines Einsatzes im Irak den dortigen Krieg als illegal bezeichnet hatte. Wie ein medizinischer Bericht festhielt, wurde Tillman angeblich drei Mal aus nächster Nähe in den Kopf getroffen. Seine Familie berichtet, dass er sich bei seinem nächsten Heimaturlaub mit dem erklärten Kriegsgegner und Philosophen Noam Chomsky treffen wollte.

Zum Glück spart sich The Tillman Story Verschwörungstheorien, die auf einen vorsätzlichen Mord am Poster-Boy schließen, um dessen kritische Stimme zum Schweigen zu bringen. Auch wenn sich Bar-Lev am Ende nicht ganz eines klassischen Verschwörungsdiagramms (bis zum erwarteten Kingpin) verwehren kann. Ansonsten ist The Tillman Story ein packender, spannender, teils schockierender und zugleich bewegender Film über eine starke Familie geworden, die nur die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes erfahren wollte und damit schon zu viel von ihrer Regierung verlangte. Zugleich gelang Bar-Lev ein entblößendes Dokument über den verlogenen Charakter dieser Regierung und die gefährliche Natur vieler US-Soldaten, die für sie im Nahen Osten kämpfen. Klar ist: Pat Tillman war ein Kriegsheld. Nur fiel er nicht den Taliban zum Opfer, sondern seiner Regierung.

9/10