17. Mai 2011

Waste Land

It’s where everything not good goes, including the people.

Über sechs Millionen Menschen leben in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro, weitere 5,5 Millionen Einwohner in der unmittelbaren Umgebung. Zusammen produzieren sie jeden Tag über 9.000 Tonnen Müll, von denen rund 7.000 Tonnen – und damit 70 Prozent des Mülls von Rio – auf der Mülldeponie Jardim Gramacho landen. Zu den weggeworfenen Materialien zählen neben Lebensmitteln auch alte Röntgenbilder, Schuhe, Bücher bis hin zu Leichen von Gangopfern oder Babys. Für Vik Muniz, einen brasilianischen Gegenwartskünstler der inzwischen in New York lebt und auch mit Müll arbeitet, erschien der Jardim Gramacho ideal für seine Müll-Installationen.

Von den 7.000 Tonnen Müll, die täglich im Jardim Gramacho landen, lassen sich 200 Tonnen recyceln. Diese Aufgabe übernehmen die catadores – die Müllsammler. Um die 3.000 gibt es von ihnen, die den Müll nach PET und Co. durchforsten und die wieder verwertbaren Materialien verkaufen. „Wie an der Börse“, erklären die Leiter der Müllhalde. Die Masse Müll, die hier täglich recycelt wird, entspricht der Masse, die eine Stadt mit 400.000 Einwohnern pro Tag produziert. Valter dos Santos ist seit 26 Jahren ein catador und wundert sich noch immer, warum viele PET-Flaschen nicht recyceln, weil eine Flasche mehr oder weniger für sie keinen Unterschied macht.

„99 ist nicht 100“, lautet Valters Mantra. Er und die anderen Sammler sind weniger depressiv denn lebensfroh. Viele von ihnen kennen es nicht anders, schaffen sie doch seit Jahren im Jardim Gramacho. Zumbi, der gut erhaltene Bücher aus dem Müll klaubt, um damit eine Kommunalbibliothek zu eröffnen, arbeitet hier seit er 9 ist. Suelem, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, hat von ihren 18 Lebensjahren bereits 11 mit Arbeiten zugebracht und auch Isis ist vor fünf Jahren zu den catadores gestoßen. „Das hier ist keine Zukunft“, sagt sie zwar, doch mit umgerechnet zwischen 13 bis 17 Euro am Tag, verdient sie verhältnismäßig gutes Geld. Und sie kann ihre Ehre behalten.

Muniz und sein Arbeitskollege Fabio planen nun, Porträts einiger catadores als großflächige Installation mit Müll nachzubauen und dann erneut abzulichten. Der Erlös der Bilder soll der ACAMJG, der Vereinigung der catadores des Jardim Gramacho, zu Gute kommen, die von Sebastiao Carlos dos Santos ins Leben gerufen wurde. Tiao, ein lebenslustiger junger Familienvater, zitiert Machiavelli und liest Nietzsche - dank Bücher, die er aus dem Jardim Gramacho geklaubt hat. Das Bild für das Tiao Model steht, ein Replikat von Jacques-Louis Davids „Der Tod des Marat“, wird später für rund 30.000 Euro in London verkauft werden – 30.000 Euro für einen Haufen Müll.

Waste Land befasst sich ab einem gewissen Zeitpunkt weniger mit Muniz und seinen Vorstellungen, als mit Tiao, Isis, Suelem und den anderen, deren Alltag durch seine Ankunft unterbrochen wird. Sie alle haben eine Geschichte zu erzählen, sei es der Tod eines Kindes, der sie in den Jardim Gramacho trieb, oder die Arbeitslosigkeit des Ehemannes. Alle kamen mit Schwierigkeiten zur Müllhalde, aber alle behielten ihre Würde. Besonders die Frauen heben hervor, dass sie nicht dem Drogenhandel oder der Prostitution zum Opfer fielen, die als einzige Alternative erscheinen. „Ich trage das mit Stolz“, berichtet Valter von seiner Vize-Präsidentschaft in der ACAMJG-Union.

Zugleich werfen diese Umstände jedoch Fragen auf, derer sich Regisseurin Lucy Walker nicht widmet, vielleicht auch gar nicht widmen kann. Denn was wäre, wenn die Einwohner von Rio ihren Müll selbständig trennen würden? Wenn die 200 Tonnen wieder verwertbarer Abfall täglich wegfallen und somit die Valters, Zumbis und Suelems keine Arbeit hätten? Bliebe Isis und den anderen Frauen dann keine Alternative zur Prostitution? Müsste Zumbi mit Drogen handeln, um seine Familie zu ernähren? Zudem offenbart eine kurze Szene, in der das Büro von ACAMJG überfallen und der Monatslohn der catadores geraubt wird, dass auch hier nicht heile Welt herrscht.

Dieser Teufelskreis und die Abhängigkeit der catadores vom Abfall der Bewohner Rios bleibt in Waste Land wohl gezwungenermaßen etwas außen vor. Stattdessen beschränkt sich Walker auf die Sammlercharaktere und dies in einer weitaus zugänglicheren Weise, als es beispielsweise Werner Herzog und Errol Morris für gewöhnlich in ihren Filmen pflegen. Walkers Protagonisten sind menschlich und greifbar, ohne dass sie indirekt der Lächerlichkeit preisgegeben werden ob ihrer Eigenartigkeit. So entsteht ein authentisches Bild der ärmeren Einwohner Rios, wie man es aus den Werken Fernando Meirelles’ kennt, der hier als ausführender Produzent fungierte.

Sowohl die Beteiligten als auch die künstlerischen Produkte ihres Schaffens faszinieren in Waste Land. „Was ich wirklich will, ist die Möglichkeit zu haben, das Leben einer Gruppe von Menschen zu verändern“, erklärt Muniz zu Beginn. „Mit demselben Material, mit dem sie sich jeden Tag umgeben.“ Zu diesem Zeitpunkt wirkt die Äußerung eher auf die späteren Besucher im Museum gemünzt, letztendlich trifft sie jedoch vielleicht viel mehr auf die catadores in Waste Land zu. Muniz’ Projekt und Walkers Dokumentation veränderten ihr Leben. Eine Veränderung, die auch die restlichen catadores erwartet, denn der Jardim Gramacho wird im kommenden Jahr geschlossen.

8/10

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