28. März 2011

Winter’s Bone

Never ask for what ought to be offered.

In der japanischen Kultur stellen die drei Affen Mizaru, Kikazaru und Iwazaru, die nichts Böses sehen, hören oder sagen, eine buddhistische Legende dar. Während in Asien interpretiert wird, dass sie über Schlechtes hinweg sehen wollen, gelten sie im Westen dagegen als Versinnbildlichung von fehlender Zivilcourage. Geschieht etwas Böses, wird weggesehen, weggehört und nichts gesagt. Ein Prozedere, welches oft auf sozial gebeutelte Stadtviertel zutrifft, in denen Gangs und das organisierte Verbrechen das Sagen haben. Dass es nahezu unmöglich ist, aus Menschen, die sich wie die drei Affen verhalten, Informationen herauszufiltern, muss auch die 17-jährige Ree Dolly (Jennifer Lawrence) in Debra Graniks intensivem Drama Winter’s Bone feststellen.

Ree ist die Heldin des gleichnamigen Romans von Daniel Woodrell über eine kleine Gemeinde auf dem Ozark-Plateau der USA. Da ihr Vater als einer von vielen Meth-Köchen irgendwo in den Wäldern sein Unwesen treibt und ihre Mutter aufgrund einer geistigen Störung ein Sozialfall ist, dient Ree als Oberhaupt der Familie und Erzieherin ihrer beiden kleinen Geschwister. Ihnen zeigt sie, wie sie Eichhörnchen zum Abendessen schießen und anschließend häuten können. Es ist eine harte und raue Gegend, die problemlos als Hauptstadt von White Trash County gelten könnte, bedenkt man, dass hier jede kaputte Frau einen noch kaputteren Mann an ihrer Seite weiß und sowieso die meisten Personen über mehrere Ecken miteinander verwandt sind. So bleibt alles in der Familie.

Und weil Ree entgegen den anderen Figuren - darunter ihre gleichaltrige Freundin Gail (Lauren Sweetser), die jedoch bereits dank Mann und Kind im Teufelskreis gefangen ist - erstaunlich normal erscheint, fällt es umso leichter, ihr bereitwillig als Identifikationsfigur zu folgen. Als ihr Vater eine Gerichtsanhörung zu verpassen droht, jedoch als Kaution das Haus seiner Familie überschrieben hat, obliegt es nun Ree, den Flüchtigen ausfindig zu machen und an jenen Termin zu erinnern, will sie sicher stellen, dass sie und ihre Geschwister auch weiterhin ein Dach über den Kopf haben. Das einzige Problem ist, dass niemand darüber sprechen will, wo sich Rees Vater aufhalten könnte, geschweige denn befindet. Getreu dem Motto: Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen.

Diese Welt ist maskulin dominiert, selten darf Ree ihre Fragen direkt an die Männer der Gemeinde herantragen, stets ist ein weiblicher Bote von Nöten. Es ist daher bezeichnend, wenn in einer Szene die vom Leben gezeichnete Merab (Dale Dickey) Ree fragt: “Ain’t you got no man to do this?“. Und erst mit fortlaufender Spieldauer dämmert einem langsam, dass der Grund, warum keiner der Männer Ree Auskunft darüber geben will, wo ihr Vater ist, weniger damit zusammenhängt, diesen zu schützen, sondern sich selbst. Es ist Rees unbändiger Wille und die Notwendigkeit, für ihre Geschwister zu sorgen (besonders in Anbetracht dessen, dass der gegenüber wohnende Abschaum sie bereitwillig aufnehmen, sprich: mit hinunterreißen, würde), der sie tiefer in gefährliche Gefilde bringt.

“Some of our blood at least is the same“, ist einer von Rees verbalen Versuchen, ein Gespräch mit dem „Kingpin“ der Gemeinde, Thump (Ronnie Hall), zu erzwingen. Dass Blutsbande in Woodrells Geschichte jedoch nichts bedeuten müssen, wurde zuvor bereits gezeigt, als Rees Onkel Teardrop (John Hawkes) ihr gegenüber handgreiflich wurde, als sie nach seinem Bruder fragte. Wer in Winter’s Bone keine Fragen stellt, lebt länger - das macht Granik überdeutlich. Gefährlich wird es immer dann, wenn jemand redet, wenn jemand etwas hört oder wenn jemand etwas sieht. Dies gilt für Thump und Merab ebenso wie für den lokalen Sheriff Baskin (Garret Dillahunt), was in zwei kurzen, aber deswegen nicht minder angespannten und intensiven Szenen im dritten Akt mehr als deutlich wird.

So packend und spannend Winter’s Bone ausfällt, besticht der Film die meiste Zeit jedoch durch das erwachsene Spiel von Jennifer Lawrence. Dass auch das übrige Ensemble mit Hervorhebung von Dickey und Hawkes im Vergleich zu Lawrence kaum aufsteckt, macht den in blassen und kalten Bildern geschossenen Film zu Charakterkino erster Güte. Besonders im Finale gelingt es Granik eine entscheidende Szene gekonnt auf Messers Schneide tanzen zu lassen, sodass man als Zuschauer fast den Atem anhält, ob dem, was als nächstes geschieht. Am Ende ist man dann froh, dass man selbst nicht in jener Meth-geplagten Gemeinde der Ozarks lebt, wo grimmige Menschen am liebsten unter sich sind. Weshalb Winter’s Bone zu einem der eindringlichsten und besten Filme des Jahres avanciert.

8.5/10

24. März 2011

Butch Cassidy and the Sundance Kid

For a moment there I thought we were in trouble.

Im Western gibt es keine Mimosen. Es ist ein hartes Genre voller harter Kerle. Karge Landschaften, verlorene Käffer und Schießduelle bei Sonnenuntergang. So kennt man das Westerngenre von Sergio Leone mit Clint Eastwood oder in den Filmen von John Ford mit John Wayne. Unzählige seiner Helden wurden auf Zelluloid gebannt, von Wyatt Earp bis hin zu Jesse James. Nur zweier Figuren hatte sich bis 1969 niemand in Hollywood angenommen. Diese Männer hießen Robert LeRoy Parker und Harry Longabaugh, besser bekannt als Butch Cassidy und The Sundance Kid. Dass es Butch Cassidy zuvor nie in einen Film geschafft hat, hat einen Grund, wie Hermann Understöger von der Süddeutschen Zeitung weiß: „Butch tat etwas, das Westernhelden nun mal nicht tun - er rannte davon“.

Für den Durchschnittamerikaner repräsentiert vermutlich John Wayne den Cowboy schlechthin. “And John Wayne don’t run“, resümiert Schriftsteller William Goldman die Krux des Genres. Nun war Butch Cassidy nicht zwingend ein Feigling oder jemand, dem die Menschen mit Zweifeln begegneten. Im Gegenteil, Butch war ”this weird popular figure. People liked him”, verrät das Bonusmaterial von George Roy Hills Butch Cassidy and the Sundance Kid. Wenn Butch nach einem Verbrechen auf der Flucht war und bei Menschen an die Tür klopfte, versteckte man ihn bereitwillig und zwanglos in seinem Haus. Als der Gesetzlose jedoch einen Geldzug zu viel überfiel, hetzte ihm dessen Besitzer eine Handvoll der härtesten Gesetzeshüter des Landes auf den Hals - und Butch floh nach Südamerika.

Dieser Bruch mit den Konventionen schien kein Filmmaterial zu sein und doch stürzten sich die Studios schließlich auf William Goldmans Drehbuch, nachdem dieser sich des Stoffes aus privatem Interesse angenommen hat. Letztlich zahlte 20th Century Fox $400.000 für das Skript und damit mehr als je zuvor für ein Drehbuch bezahlt worden war. Dieses hieß damals noch The Sundance Kid and Butch Cassidy und sollte Paul Newman als Ersteren und Jack Lemmon als Letzteren präsentieren. Doch Lemmon lehnte den Part ab, wie es im Folgenden auch Steve McQueen, Warren Beatty und Marlon Brando tun würden. George Roy Hill, selbst nicht der Wunschregisseur der Produzenten, setzte sich für den wenig bekannten Robert Redford ein und katapultierte ihn damit zum Hollywood-Star.

Don Reeves, Kurator eines Westernmuseums, bezeichnete 1969 als “pivotal year for the western film genre“. Denn laut Richard D. Zanuck, damals Präsident der Fox, gab es in jenem Jahr “different takes on the western“, war vier Monate zuvor doch The Wild Bunch von Sam Packinpah angelaufen. Und eines stand nach dem Start von Butch Cassidy and the Sundance Kid fest: einen Western wie diesen, hatte es zuvor noch nie gegeben. Traditionelle Elemente des Genres wurden mit modernem Humor gemischt. “A brand new thing“, nannte es Drehbuchautor Lawrence Kasdan rückblickend und Hauptdarsteller Paul Newman war sicher: “That’s what made the movie, I think, it’s complete unconventionality”. Die Filmkritiker verzogen ihre Münder, die Zuschauer stürmten dagegen die Kinos.

Dass es dem Film gelang, ein damals bemerkenswertes Einspiel von über 100 Millionen Dollar zu erzielen, ist so seltsam wie verständlich. Denn in der Tat weist Hills Werk wenig von einem 0815-Western auf. Angefangen mit einem humoristischem Stummfilm-Intro über die ungewöhnliche Musiksequenz von Burt Bacharans „Raindrops Keep Fallin’ on My Head“ bis hin zu minutenlangen Inserts und einer fast halbstündigen Verfolgungsjagd im Mittelteil. So hätte sich niemand vorstellen können, dass der Duke zu einem Pop-Song Kasperletheater auf einem Fahrrad vollführt oder den gesamten zweiten Akt hindurch von einem unsichtbaren Gegner verfolgt wird. In „diesem heitersten aller heiteren Western“ (Hermann Unterstöger) faszinierte folglich etwas anderes, Revolutionäres, das Publikum.

”I think it was probably one of the first buddy movies“, mutmaßte Robert Redford. Die Entscheidung, den namenlosen Broadway-Darsteller an die Seite von Superstar Paul Newman zu besetzen, stellte sich als goldrichtig heraus. Denn was Butch Cassidy and the Sundance Kid auszeichnet, ist die Beziehung der beiden Figuren zueinander. Newman und Redford freundeten sich während der Dreharbeiten an und harmonierten so gut miteinander, dass man sie nicht nur mit dem Leinwandpaar Spencer Tracy und Katharine Hepburn verglich, sondern von George Roy Hill vier Jahre später erneut zusammen in The Sting besetzt wurden. Während Redford den coolen Revolverhelden mimt, ist es Newmans kalauernde Einzeiler-Maschine, die dem Film seinen unvergleichlichen Charme verleiht.

Speziell durch den Charakter von Butch verlässt der Film meist die Breitengrade des Western und taucht tiefer ein in die Gefilde einer Komödie, weshalb der Film eher eine Western-Komödie darstellt und diesbezüglich auch bestens funktioniert. Denn schon allein das actionreiche und historisch-logistisch unmögliche (und in der Tat verfälschte) Finale bietet Butch und Sundance Raum für Dialogkomik, wenn sie in San Vincente, einem kleinen bolivianischen Dörfchen, von dutzenden Polizisten belagert werden. Es sind mindestens 17, was sich deswegen feststellen lässt, da Sundance allein 14 von ihnen erschießt. Da die beiden Bankräuber in Wirklichkeit vermutlich schwerverwundet Suizid begingen, darf das Finale als das wohl größte Zugeständnis an Hollywood gelten.

Aber der fast schon größenwahnsinnige Shoot-out wird durch die herrlichen Dialoge von Newman und Redford überschattet. Beispielsweise wenn Butch während der Belagerung Sundance den Vorzug lassen will, sein Leben zu riskieren, um Munition zu holen (“This is no time for bravery. I’ll let ya!”) oder dieser süffisant reagiert, wenn mal wieder einer von Butchs grandiosen Plänen fehlgeschlagen ist (“Don’t you get sick of being right all the time?“). Es sind die Szenen zwischen den Titelfiguren, die im Film am meisten überzeugen und diesen auch auszeichnen. Allerdings können sie nicht vollends die überflüssige Insertmontage und die nur leidlich sinnige Musiksequenz kaschieren, während die 27-minütige Super-Posse-Szene auch ob ihrer Redundanz (“Who are those guys?“) gefällt.

Dabei sind die Figuren nur bedingt ausgearbeitet, zeigt sich Butch doch als Charakter, der relativ erfolglos agiert (er kann nicht mit einem Revolver umgehen und seine Pläne laufen nur bedingt nach Plan), während wenig deutlich wird, was Sundance und ihn zusammenhält außer ihrer grundsätzlichen Sympathie. Auch die Handlung ist weder sonderlich komplex noch qualitativ, erzählt sie lediglich von zwei Gaunern, die unter Druck nach Bolivien flohen, um dort den Tod zu finden. Angesichts der einstigen Kritikerschelte verwundert es daher, dass Butch Cassidy and the Sundance Kid inzwischen vom AFI zum siebtbesten Western und 73. besten Film aller Zeiten gewählt wurde. Letztlich nicht mehr als ein netter Film findet sich hier zumindest der erste Buddy-Film Hollywoods.

7/10

20. März 2011

Wait a Second... - Saving Private Ryan

FUBAR.

Mit Saving Private Ryan legte Hollywood-Regisseur Steven Spielberg endlich seinen eigenen Combat-Film vor. „Combat stories“, das sind Geschichten, die Spielberg im April 1998 in einem Artikel (Of Guts and Glory) des Magazins Newsweek als „tunes of glory“ bezeichnete. “Maybe this is why I became such a war-movie fanatic”, so Spielberg. Und im Nachhinein kann man bestätigen, Saving Private Ryan bietet beides: Eingeweide (das Wortspiel mit Mumm außen vor gelassen) und Ruhm. Zuvorderst ist Saving Private Ryan jedoch ein grauenvolles Stück cineastischer Pathos-Mist, mit einer Geschichte, die selten wirklich Sinn macht und Szenen, die einen mit verständnislosem Blick zurücklassen.

Nach dem kitschigen Opening, in dem ein alter Mann über den Normandy American Cemetery watschelt, ehe er mit himmelsblau-wässrigen Augen an einem Kreuz zu Boden kniet, wirft Spielberg den Zuschauer in eine grausig-unsinnige D-Day-Szene, die seither vom Publikum wie Kritikern gottgleich verehrt wird. Es ist eine pseudo-authentische Sequenz, die mit gorigen Gewaltszenen kokettiert, um sich als „true-war-reality“ anbiedern. Nach dem Motto: Genau so sieht Krieg aus. Für all diejenigen, denen es nie vergönnt war, die „tunes of glory“ von WW2 live-in-action zu hören.

Während der Landung an Omaha Beach zeigt sich, dass die Nazis offenbar von einer Invasion ausgingen. Zumindest installierten sie MG-Stände, mit denen sie - ausgesprochen effektiv - die anstürmenden US-Soldaten wegpusten wie Fliegen mit einem Fön. Spielbergs Bilder erwecken den Eindruck, dass allenfalls zehn Prozent der Männer überleben. Wer nicht bereits auf dem Schiff abgeknallt wird, ertrinkt durch das Gewicht seiner Ausrüstung, wird von Flammenwerfern vertilgt oder sucht händeringend nach seinen abgeschossenen Extremitäten. Mühsam retten sich Tom Hanks und Mannen in Deckung, doch wie sie es schaffen sollen, den Tag zu überleben, geschweige denn die MG-Stationen der Nazis einzunehmen, bleibt zu diesem Zeitpunkt ein Rätsel. Wie dem auch sei, die Männer schaffen es, sich über den Strand hinter eine Sandbank zu retten.

Nun stellt sich mir, als jemand, der nie Wehrdienst geleistet hat, die Frage: Warum ist da eigentlich eine Sandbank, hinter der sich jemand vor den MG-Salven der Nazis verstecken kann? Haben die Nazis die Sandbank aufgeschippt? Und wenn ja: wieso? Warum schippt jemand eine Sandbank, hinter der er mit seinen MG-Salven niemanden mehr erschießen kann und hinter denen auch keine eigenen Männer positioniert sind? Oder anders: Warum wurde die Sandbank, wenn man sie schon aufschippt, nicht mit Sprengsätzen versehen? Warum gibt es keine Luftunterstützung, die die Nazis, aber insbesondere die Alliierten gebrauchen könnten? Die offizielle Seite der US-Army gibt an, dass sie am D-Day immerhin 13.000 (!) Flugzeuge zur Luftunterstützung hatten - hätte bei 5.000 Landungsbooten nicht pro Schiff ein Flugzeug abgestellt werden können? Wie gesagt, ich wurde ausgemustert, aber bei Anblick dieser Szene erscheint mir, als hätten die Nazis Omaha Beach irgendwie... besser schützen können.

Die Inkompetenz der Nazis scheint jedoch Voraussetzung dafür zu sein, dass die Invasion bei Spielberg gelingt. Denn als ein Verwundeter von 3 Sanitätern, darunter auch Giovanni Ribisi, versorgt wird, schützen diese den Verwundeten zuerst vor einer MG-Salve, die mit einem bereits verstorbenen G.I. abgefangen wird, ehe der Verwundete selbst jedoch durch einen Kopfschuss getötet wird. Die drei vor ihm knienden Sanitäter bleiben unverletzt und das obschon sie vollkommen ungeschützt sind. Die Nazis treffen sie nicht, dabei ließ sie Spielberg zuvor mindestens zwei Mal genau in ihre unmittelbare Nähe schießen. Vermutlich waren es einfach ziellose Schüsse, wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Szene lediglich dazu dient, Ribisi als emotional-involvierten Sanitäter einzuführen.

Nachdem jedenfalls Tom Hanks und seine Männer die Sandbank erreichen, stürmen sie in schnellen Zügen den Hügel. Mit der Kreativität eines MacGyver bastelt Hanks aus einem Messer, einem Spiegel und dem Kaugummi von Adam Goldberg einen Handspiegel, um mit diesem die Position und Zahl der Nazis auf einer Erhöhung auszuspähen. Im Folgenden erklärt Hanks seinem Scharfschützen Barry Pepper, dass dieser die Nazis außer Gefecht setzen soll. Was dieser dann tut, weshalb die Szene durchaus auch der Überwältigung der Nazis dient, zuvorderst jedoch der Talentschau von Peppers später noch wichtigen Geschick am Gewehr.

Anschließend geht es ziemlich schnell. In wenigen Zügen nehmen Hanks’ Männer den Strand ein. Die Nazis werden erschossen, verbrannt und bestohlen - die Invasion ist geglückt. Zu welchem Preis, zeigen einige Halbtotalen, von denen eine auf einem toten Soldaten endet, dessen Name als „Ryan“ enthüllt wird. Es folgt ein Schnitt in die Heimat, in ein Großraumbüro voller Tippsen, die die Beileidsbekundungen an die Familien schreiben. Auf einer von ihnen ruht schließlich die Weitwinkelaufnahme (inklusive Anschnitt). Die gute Frau tippt einen Brief und hält plötzlich inne. Denn tief in ihren Erinnerungen weiß sie: Da war doch irgendwas.

Der Name der adressierten Person kommt ihr scheinbar bekannt vor und sie sucht in ihren Unterlagen nach einem weiteren Brief. Als sie ihn findet, begutachtet sie ihn und beide Briefe haben wohl etwas gemeinsam.

Die Tippse hat die Bestätigung und sie erinnert sich nochmals an etwas.

Deshalb steht sie auf und geht zu ihrer Kollegin, kramt in deren Unterlagen (ohne dass die Kollegin diese Handlung kommentiert, geschweige denn registriert) und stößt auf einen weiteren Brief. Es sind drei Briefe an Mrs. Ryan, die vom Tod dreier Söhne berichten. Was verwundert, ist die Choreographie dieser Szene. Zwar hab ich keine Daten, wie viele Briefe jede Tippse in Zeiten des Krieges täglich getippt hat, aber ich schätze, es waren viele (alleine am D-Day starben laut dem D-Day Museum 1.465 US-Soldaten). Dass unsere Tippse also einen Brief mit „Ryan“ mit einem anderen Brief mit „Ryan“ in Verbindung bringt, den sie zuvor geschrieben hat, nehme ich Spielberg noch ab. Warum aber den dritten Brief einer anderen Tippse geben? Woher weiß unsere Tippse, dass ihre Kollegin ebenfalls an eine „Mrs. Ryan“ geschrieben hat? Erzählen die sich das in der Mittagspause? Vielleicht hat unsere Tippse den Brief ja selbst geschrieben, an einem früheren Tag. Warum aber an einem anderen Schreibtisch? Die Tippsen sitzen wohl jeden Tag anders in diesem Großraumbüro...

Mit den drei Briefen geht die Tippse jedenfalls zu ihrem Chef. „Schauen Sie, Chef. Drei Briefe, alle an dieselbe Frau“. Was ist der Hintersinn dieser Aktion? Weiß unsere Tippse, dass es einen vierten Sohn gibt? Oder mutmaßt sie, dass es einfach noch mehr Söhne gibt? Macht sie sich Sorgen, dass Mrs. Ryan alle Briefe am selben Tag erhält? Wie dem auch sei, die Szene will nicht überzeugen. Vor allem, weil die Söhne zu unterschiedlichen Zeiten starben, der dritte Bruder eine ganze Woche vor den anderen Beiden. Wie lange hebt die US-Armee die Briefe auf? Werden die lediglich ein Mal die Woche raus gesendet? Erst wenn alle/genug Familienmitglieder tot sind? Fiel der eine Bruder vor einer Woche, doch der Brief konnte erst gestern geschrieben werden? Fragen über Fragen.

Es folgt eine nutzlose, aber emotional-gewichtige Szene aus dem Hause Spielberg. Die Vorstellung, dass Mrs. Ryan die Briefe bekommt, kann der Zuschauer nicht visualisieren. Deswegen macht Spielberg das. Und um der Szene mehr Gewicht zu verleihen, wohnt Mrs. Ryan am Arsch der Welt, mitten in der Pampa. Dass das so ist, hat einen einfachen Grund.

Dadurch, dass die gute Mrs. Ryan so weit ab vom Schuss lebt, kann Spielberg die Darstellerin einfangen, wie sie das sich ihrem Haus nähernde Auto bemerkt. Und weil sie am Arsch der Welt lebt, ist ein Auto, das zu ihr fährt, in Kriegszeiten mit 4 involvierten Söhnen kein gutes Zeichen.

Nachdem die arme Frau zusammenbricht, wechselt die Kamera wieder zurück zum Militär. Zuvor war der Chef der Tippse mit den Briefen zu Bryan Cranston gegangen - seinem Chef. Und der ging damit wiederum zu seinem Chef - General of the Army George Marshall. Als der von dem Tod dreier Söhne einer Mutter erfährt, stapft er zu seinem Schreibtisch. Dort greift er zielsicher nach einem Buch, in dem ein Brief von Abraham Lincoln steckt. Passend zum Thema ist es ein Beileidschreiben an die Mutter von 5 Söhnen, die im Bürgerkrieg gefallen waren. Wie zufällig hat Marshall diesen Brief griffbereit. Er liest ihn vor, um ihn dann vollends frei aus dem Gedächtnis zu rezitieren. Aber warum macht er das? Warum liest er überhaupt vor, wenn er Lincolns Worte sowieso auswendig kann? Warum holt er überhaupt den Brief, wenn er die Worte auswendig kann?

Und viel wichtiger, was ist der Sinn des Briefes? Lincoln hebt hervor, dass die Mutter Trost finden kann, dass ihre Söhne für die Erkämpfung der Freiheit starben (“the solemn pride that must be yours to have laid so costly a sacrifice upon the altar of freedom“). Was der Brief wiederum damit zu tun hat, dass Mrs. Ryans vierter Sohn von der Front gerettet wird, ist nicht klar, da Marshall dies niemandem im Raum erklärt. Die Tatsache, dass er den Brief auswendig kann, legt nahe, dass der Inhalt ihm wichtig ist. 3 tote Söhne sind genug, der 4. muss am Leben bleiben. Dies wirft wiederum die Frage auf, warum die Armee überhaupt 4 Söhne einer Familie einzog, die nur 4 Söhne hat? Ging man davon aus, dass in einem Weltkrieg keiner von ihnen stirbt? Oder allenfalls einer? Oder zwei? Gibt es einen Plan, dass bei 75 Prozent Ausfall einer Familie der Rest nach Hause darf? In diesem Moment wird die gesamte Prämisse des Filmes (Rettet Soldat Ryan!) eingeführt - ohne dass sie Sinn macht.

Wie dem auch sei, die Handlung wendet sich wieder dem Geschehen in der Normandie zu. Tom Hanks geht zu seinem Vorgesetzten, Dennis Farina, und erstattet diesem Bericht. 35 Tote habe seine Truppe zu verzeichnen, was erstaunlich wenig erscheint, angesichts der gorigen Anfangssequenz. Also zurückgespult und nachgeschaut. Denn nach meiner Rechnung sterben am D-Day mindestens 36 Soldaten aus Hanks’ Einheit. Und dabei wurden nur diejenigen berücksichtigt, von denen ich anhand der Bilder auch wirklich überzeugt bin, dass sie tot waren oder tödlich verletzt wurden. Wie die ersten Männer, die beim Verlassen des Schiffs sterben.

Nicht mitgezählt wurden dabei zum Beispiel der Soldat, dem ein Bein weggesprengt wird oder sein Kollege, der einen Arm vermisst.

Auch diese Soldaten, die in Flammen aus ihrem Boot den Strand stürmen, wurden gnädiger Weise als „verletzt, aber lebendig“ katalogisiert. Aber gut, die Bilder sind bisweilen sehr rasch geschnitten, die Handlung nicht minder temporeich. Vielleicht habe ich auch schlichtweg falsch gezählt.

Vielleicht ist ja einer von den beiden hier nicht tot.

Oder er hier.

Möglicherweise hat er überlebt.

Oder der Funker, dem das halbe Gesicht weggesprengt wird. Dabei ist es im Grunde auch nicht so wichtig, ob dieser Soldat, der nach einem Streifschuss an seinem Helm diesen abnimmt und per Kopfschuss getötet wird, nun der 35. oder 36. Tote ist. Er ist auf jeden Fall der letzte G.I. aus Hanks’ Truppe, der in der Anfangssequenz sein Leben lässt. Was bemerkenswert ist, da zu diesem Zeitpunkt lediglich etwas mehr als die Hälfte der Omaha-Beach-Sequenz abgelaufen war. Die Stürmung des Küstenhangs verläuft folglich ohne einen Verlust auf eigener Seite. Und was ebenfalls bemerkenswert ist: Die Szene mit dem Toten Nr. 35 bzw. 36 untermauert erneut, wie inkompetent die Nazis eigentlich sind. Nachdem der erste Schuss den Helm des Soldaten streift, folgt kurz darauf ein nahezu identischer Schuss, der ihn zwischen die Augen trifft.

Das suggeriert zumindest ein Schema, welches die Nazis jedoch zuvor vermissen ließen, als sie die 3 Sanitäter nicht treffen konnten.

Erstaunlich gering ist auch die Zahl der lediglich 35 Toten, wenn man eine der Halbtotalen betrachtet, ehe die Handlung zur Tippse driftet. Allein in einer (!) dieser Einstellungen lassen sich 20 Tote ausmachen (dazu kommen noch die beiden Toten bei den Sanitätern, die drei Toten im Wasser, die drei Toten durch die Explosion des Flammenwerfers, der vermeintliche Tote mit ausgequillten Eingeweiden, sowie die zwei Soldaten, die in Hanks’ Armen sterben - insgesamt also schon 31 Tote).

Aber die Szene zwischen Hanks und Farina ist auch in anderer Hinsicht interessant. Denn nachdem Hanks mit der eigentlichen Mission beauftragt wird, fragt er seinen Untergebenen, Tom Sizemore, namentlich nach einem Dolmetscher (Beasley). “Beasley’s dead“, erklärt Sizemore. Hanks fragt dann, erneut namentlich, nach einem anderen Dolmetscher (Talbot). Auch der ist verstorben. Angesichts der gerade gegenüber Farina berichteten Zahl der 35 Toten und der Tatsache, dass Hanks wie ein Captain erscheint, der mit seinem Männern vertraut umgeht (in einer späteren Szene reminiszieren Sizemore und Hanks einen Soldaten namens Vecchio), liegt die Vermutung zumindest nahe, dass er sich die Liste mit den 35 Toten angesehen hat - und scheinbar seine zwei Dolmetscher nicht darunter fand. Also waren die Dolmetscher zum Zeitpunkt der Erstellung der Liste noch am Leben, ihr Versterben impliziert, dass sie zu den rund 70 Verletzten gezählt haben dürften. Die Frage, warum Hanks einen Soldaten mit auf seine Mission nehmen will, der verletzt ist, wird wahrscheinlich dadurch entkräftet, dass er wohl wusste, dass die Beiden nicht tot waren, aber nicht mitgeteilt bekam, dass sie verletzt waren. Nehmen wir dies mal an, wobei unabhängig davon die Szene lediglich den Sinn hat, dem Publikum zu erklären, warum Jeremy Davies nun neu zur Einheit stößt.

Dieser ist wiederum am Leben geblieben, was auch dank seinem Geständnis, seine Waffe seit der Grundausbildung nicht mehr abgefeuert zu haben (“I’ve never been in combat“), wohl so zu verstehen ist, dass er erst nach Stürmung von Omaha Beach an Land gebracht wurde. Dann wäre jedoch die Frage, warum dies bei Hanks’ beiden Dolmetscher nicht der Fall war? Vielleicht, weil Davies ein ausgebildeter Dolmetscher ist und die Soldaten von Hanks eher zufällig dreisprachig waren. Oder die Dolmetscher in der US-Armee werden einfach unterschiedlich behandelt...

Die Spezialeinheit von Hanks trabt mit seinen acht Mitgliedern nun also Richtung Neuville los, auf der Suche nach dem Soldaten James Ryan, dessen genauen Aufenthaltsort die Armee allerdings nicht kennt, sondern lediglich mutmaßt (“They think he’s up there somewhere part of all those airborne misdrops”). Scheinbar ist Hanks am Omaha Beach also noch die Person, zu der man am besten Funkkontakt hat, um ihr den Rettungsauftrag zu geben (folgerichtig sind alle Einheiten Richtung Landesinneres kommunikativ von Washington und Omaha Beach abgeschnitten). Und weil Davies die neue Figur ist, kann er dem Zuschauer als Identifikationsfigur dienen, indem er den anderen Charakteren Fragen stellt. Zum Beispiel Vin Diesel, der erklärt, Davies solle Hanks nicht salutieren, weil er ihn damit gegenüber den Nazis als Captain entlarvt.

Wäre Jeremy Davies nun eine richtige, eine dreidimensionale Figur, würde sie Vin Diesel darauf hinweisen, dass Hanks’ Helm im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedern der Truppe ein weißes Zeichen aufgemalt bekommen hat, welches ihn vermutlich als Captain für andere Soldaten im Getümmel kenntlich machen soll. Wie bereits erwähnt, ich wurde ausgemustert, aber wäre ich ein Soldat, der acht Soldaten ausmacht, von denen einer eine weiße Markierung am Helm hat, würde ich mir denken, dass dies irgendeinen Grund haben wird - vermutlich den, dass er der Captain ist.

Die Szene dient auch dazu, dass endlich mal einer - es ist Edward Burns - die Idiotie der aufgetragenen Mission anspricht. Warum werden acht Leben aufs Spiel gesetzt, um ein einziges zu retten? Dies könnte eine interessante Szene sein, haben wir hier doch eine aufgesprengte Sub-Einheit, wo man also Butter bei die Fische geben kann. Aber ähnlich wie später in Munich, als sich Israelis und Palästinenser begegnen, nutzt Spielberg diesen Moment nicht. “Where's the sense of riskin’ the lives of the eight of us to save one guy?”, fragt Burns also. “We all have orders, we have to follow”, antwortet Hanks brav und ergänzt: “That supersedes everything, including your mothers”. Das Folgen des Befehls, egal wie bescheuert dieser ist, überragt also auch die Gefühle der Mütter von Hanks’ Einheit (allerdings nicht die von Mrs. Ryan). Und mit dieser Äußerung ist das Thema für den weiteren Verlauf des Filmes gegessen.

Es geht also weiter. Die Truppe kommt an ein zerschossenes Dorf und trifft auf Paul Giamatti. Dessen versprengte Hälfte seiner Einheit auf der anderen Seite des Dorfes könne sagen, wo Ryan ist. Als die Einheit unterwegs auf eine französische Familie stößt und diese darum bittet, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, verlässt Vin Diesel die Pfade der Mission und bezahlt diese Entscheidung letztlich mit seinem Leben.  

Ein deutscher Scharfschütze verwundet ihn tödlich und wird anschließend von Barry Pepper und seinem guten Auge (“put me and this here sniper rifle anywhere up to and including one mile from Adolf Hitler... with a clean line of sight... Pack your bags, fellas. War’s over“) weggeballert.

Diese Szene hat drei Bedeutungen. Zum einen wird erneut untermauert, wie talentiert Pepper ist und zum anderen zeigt sich erneut, wie emotional involviert Ribisi auftritt, ohne Rücksicht auf das eigene Wohl. Des Weiteren wird deutlich, was passiert, wenn man nicht der Mission folgt (“We’re not here to do the decent thing, we’re here to follow fucking orders!”).

Die Situation scheint bereinigt, Ted Danson führt Hanks zu Private Ryan, der in Form von Nathan Fillion antrabt und in Tränen ausbricht, als ihm gesagt wird, das seine Brüder tot seien. Natürlich hat Fillion nicht nur einen Bruder, sondern diese gleich in Mehrzahl - sonst funktioniert die Szene nicht. Spielberg nutzt das Missverständnis zur humoristischen Auflockerung (darum kommt die Szene aufgrund von Fillions Spiel nicht herum). Einem treudoofen Soldaten wird zur Erheiterung des Zuschauers erzählt, dass seine zwei kleinen Brüder tot sind. Ob Spielberg einen solch niveaulosen Gag gebraucht hat? Interessant ist jedoch, dass man offensichtlich James Francis Ryan und James Frederik Ryan leicht verwechseln kann. Wie viele „James F. Ryan“ gab es wohl im Zweiten Weltkrieg? Zumindest zwei.

Jedenfalls genug, dass Verwirrung an der Front aufkommt, nicht jedoch bei unserer Tippse in der Heimat, die 1 und 1 und 1 zusammenzählen konnte.

Erfolglos ruht sich die Truppe in einer Kirche aus, wo Hanks mit Sizemore in Erinnerungen an einen ehemaligen Soldaten namens Vecchio schwelgt, den Hanks ebenso wie Diesel für weitaus wertvoller hält als Ryan. “I wouldn’t trade ten Ryans for one Vecchio or one Caparzo“, sagt er und offenbart, dass er selbst die Mission für panne hält. Nach einer Stunde Laufzeit gesteht die vermeintliche Hauptfigur also, dass die Prämisse des Filmes sinnlos ist. “This Ryan better be worth it. He’d better go home and cure some disease or invent a longer-lasting light bulb or something“, heizt Hanks die zukünftigen Erwartungen an den zu rettenden Ryan an.

Dass Hanks sich übrigens nicht nur an Vecchio erinnert, sondern auch genau weiß, wie viele Soldaten unter seinem Kommando ihr Leben ließen (94, was wiederum bedeutet, dass er allein davon an Omaha Beach verloren hat), unterstützt meine Vermutung, dass er sich erkundigt hat, wer zu den 35 Gefallenen gehört hatte und seine beiden Dolmetscher ursprünglich nicht zu diesen gehört hatten. Egal, die Mission geht weiter.

Ähnlich wie zuvor Vin Diesel muss auch dem nächsten Toten erst ein Sympathiedenkmal errichtet werden. Bei einer abgestürzten Einheit (passenderweise mussten für einen General 22 Soldaten ihr Leben lassen, weil er seinen Jeep kugelsicher machte, das Flugzeug das Gewicht jedoch nicht tragen konnte) suchen Hanks und Co. nach Ryans Erkennungsmarke unter deren Verstorbenen. Bis Ribisi heranstürmt und sie dafür scheltet.

Dies führt bei Hanks zur Besinnung, unter den anwesenden Soldaten einfach mal wahllos wie nach einem verlorenen Kind nach Ryan zu rufen.

Natürlich reagiert sofort jemand, weil an der Front einfach jeder jeden kennt und es ja genug Soldaten namens „Ryan“ gibt. Und ironischer Weise ist es ein G.I., der nicht richtig hören kann, der auf Hanks’ Ruf antwortet.

Die Truppe kann nach neuen Angaben also weiterziehen. Und weil Spielberg jetzt einen Zwischenschnitt gebraucht hat und die ohnehin alle gleich aussehen, hat er der Einfachheit halber einen aus dem ersten Drittel eingefügt, in dem acht Soldaten, also auch der inzwischen verstorbene Vin Diesel, zu sehen sind. Aber gut, sowas kann passieren. Geschenkt.

Dann stößt die Einheit auf einen Stützpunkt, der von Nazis besetzt ist. Plötzlich will Hanks deren MG in Beschlag nehmen, damit ihm keine andere Einheit zum Opfer fällt. Seine Männer weisen ihn darauf hin, dass dies nicht zu ihrer Mission gehört (“I mean, this isn’t our mission, right, Sir?”).

Und was passiert, wenn man von der Mission abweicht, hat man zuvor durch das eigen deswegen geschriebene Szenario mit Diesel gesehen.

Aber Hanks setzt sich durch und stürmt die Anhöhe mit den anderen.

Bis auf Jeremy Davies, der zurückbleibt, während Ribisi, der Sanitäter, mit angreift. Erneut, ich wurde ausgemustert, aber warum stürmt der einzige Sanitäter einer Einheit eine Anhöhe mit MG, vor allem, wenn gleichzeitig der bis zu diesem Zeitpunkt (und auch anschließend noch) total überflüssige Dolmetscher zurückbleibt? Wäre es nicht schlauer, der Sanitäter bleibt zurück, falls einer der anderen verletzt wird? Oder nicht?

Stattdessen wird also Ribisi angeschossen und erliegt seinen Verletzungen. Er ist der zweite G.I. der Einheit, der sein Leben lassen musste, weil man von der eigentlichen Mission abwich. Er ist der Zweite, der sterben musste, um den Soldat James Ryan nach Hause zu bringen. Aber warum war es eigentlich notwendig, dass die gesamte Einheit die Anhöhe stürmt?

Hätte Barry Pepper nicht einfach die Deutschen abknallen können? Hat man ihn nicht als Super-Scharfschützen eingeführt, der an Omaha Beach die Stürmung der Nazi-Stützpunkte erst ermöglichte und der zuvor den deutschen Scharfschützen in Neuville erledigte? Warum konnte Pepper nun nicht einfach die Nazis der Anhöhe töten, anstatt dass alle diese stürmen?

Hanks wiederum hat nun miterlebt, was passiert, wenn man nicht der Mission folgt. Menschen sterben. Währenddessen planen die anderen, den überlebenden Nazi zu exekutieren, was jedoch Davies versucht, zu verhindern. Dass die US-Soldaten, die einfach nur Befehlen folgen, dies bei ihrem Gegner nicht als Ausrede gelten lassen wollen, beziehungsweise dies nicht in Saving Private Ryan thematisiert wird, ist legitim. Muss auch nicht sein. Spielberg plant ja keinen Diskurs über den Krieg (wie Terrence Malicks The Thin Red Line), sondern er lauscht den „tunes of glory“.

Dank Hanks’ Rückbesinnung wird der Nazi also freigelassen, was Ed Burns nicht so recht akzeptieren mag und weswegen Tom Sizemore droht, Burns hinzurichten. Die Situation droht zu eskalieren, ehe Hanks einschreitet. Er verrät, woher er kommt und was er macht und das beruhigt alle, weil alle das wissen wollten (das weiß der Zuschauer durch Jeremy Davies’ Integration in die Handlung). Burns, der eigentlich die Mission desertieren wollte, wird zum Bleiben bewegt, weil Hanks ihm sagt: “I just know, that every man I kill, the farther away from home I feel“. Eine bewegende Aussage. So menschlich. Und so sinnlos, so irgendwie. Weil Hanks mitteilt, dass ihm der Krieg egal ist, dass er einfach nur nach Hause will. Und das die Rettung von Ryan dafür sorgen kann. Dabei wurde das zuvor nirgends bestätigt, weder von Marshall, noch von Farina. Niemand hat gesagt, dass Hanks und Co. nach Hause dürfen, wenn sie Ryan finden. Was für mich als Ausgemusterten wenig Sinn macht, dass man einen Weltkrieg führt und nicht nur einem, sondern neun Soldaten ein Ticket nach Hause schenkt.

Dieses Geständnis von Hanks, dass er einfach nur nach Hause will, verwundert. Schließlich leidet er, so wird zumindest suggeriert, an Parkinson. Und dass die Armee einen Soldaten, der an Parkinson leidet, kämpfen lässt, erscheint mir als Ausgemusterten unwahrscheinlich.

Die Mission geht weiter, die Einheit stößt auf einen deutschen Panzer. Und Hanks, den die Tötung jedes Mannes weiter weg von Zuhause fühlen lässt, mäht keine vier Minuten nach dieser Äußerung Nazis weg, ohne ihnen die Chance auf Ergebung zu gewähren. Aber gut, dieser Mann hat einen Krieg zu kämpfen, da driften Wort und Tat gerne mal etwas auseinander.

Wie der Zufall so will, finden Hanks und Co. nun jedenfalls Ryan. Doch der will nicht nach Hause geschickt werden, sondern mit seiner Truppe eine Brücke in einem leeren und zerstörten Dorf beschützen. Anstatt der Mission zu folgen (und Hanks hat nun bereits mitbekommen, was die Konsequenz ist, wenn man nicht der Mission folgt), bleiben Hanks und Co. ebenfalls im Dorf. Und unterstützen die Verteidigung der Brücke, während gleichzeitig Ryans Leben beschützt werden soll. “Someday we might look back on this and decide that saving Private Ryan was the one decent thing we were able to pull out of this God-awful shitty mess“, überzeugt Sizemore seinen Captain. Was die Frage aufwirft, ob es nicht auch nobel gewesen wäre, hätte man Ryan seinem Schicksal überlassen und dafür wären Diesel und Ribisi am Leben geblieben? Scheinbar nicht. Bisher sind jedenfalls zwei Männer für Ryan gestorben und es ist unklar, wer noch alles sterben wird oder ob Ryan die Mission überhaupt überlebt.

Alle bereiten sich nun jedenfalls auf die Verteidigung der Brücke vor und Hanks behauptet erneut, dass die Überlebenden durch die Rettung von Ryan nach Hause dürfen (ob das so ist, bleibt weiterhin unklar). Und weil der Zuschauer eigentlich nichts von diesem James Ryan weiß, baut Spielberg noch einen Dialog zwischen Matt Damon und Tom Hanks ein, in welchem Damon mit seinem Pferdegebiss-Lächeln eine Geschichte über seine Brüder erzählt, die uns die Figur nahebringen soll, ohne das dies auch nur ansatzweise so gelingt wie beim Mädchen-rettenden Diesel oder dem moralisch integren Ribisi. Damons Ryan bleibt ein reiner Name.

Dann kommen die Nazis und das actionreiche Finale beginnt. Barry Pepper ist der Dritte, der für Ryan sein Leben lässt, als er in die Luft gejagt wird.

Ihm folgt Adam Goldberg, der von einem Nazi erstochen wird, weil Davies ihm nicht zu Hilfe eilt, was im Finale zu dessen einzigem Schuss im ganzen Film führt, wenn er jenen Deutschen am Ende des Gefechts exekutiert. Und selbst jetzt macht die Integration von Davies in den Film noch keinen Sinn. Würde man ihn digital entfernen, man würde es nicht merken.

Als Vorletzter stirbt Tom Sizemore. Hanks und Co. sind kurz davor, die Brücke zu sprengen, die scheinbar immens wichtig ist. Weswegen erfahren wir nicht und ohnehin ist sie nur insofern wichtig, als das die Nazis sie nicht benutzen dürfen. Bereit, sie in die Luft zu jagen, ist man allemal.

Nun muss Tom Hanks das Zeitliche segnen. In einer heroischen Aktion stürmt er die Brücke und ballert in seinem Stumpfsinn mit seiner Pistole auf einen deutschen Panzer. Und nur, damit uns Spielberg eine Sekunde lang im Glauben lassen kann, dass es Hanks zu verdanken ist, wenn die anschließende Luftunterstützung den Panzer letztlich in die Luft jagt.

Kommen wir zur Luftunterstützung, die aus heiterem Himmel erscheint und die eigenen Truppen rettet. Woher kamen die Flugzeuge? Hanks und Co. haben sie nicht gerufen, denn sie hatten ja nicht mal ein Funkgerät und mussten extra von Omaha Beach aufbrechen, weil niemand näher an Ryan war als sie. Die einzig sinnvolle Erklärung wäre, dass die Fliegerstaffel gesehen hat, wie die Nazis marschieren, daraus dann schloss, dass sie zu jener Brücke wollten und dort dann zufällig feststellten, dass sie gleichzeitig auch ihre eigenen Männer beschützen können. Oder so.

Wie dem auch sei. Nun ist es also geschafft. Ryan lebt und für sein Überleben und seine Rückkehr in die Heimat mussten lediglich seine drei Brüder sterben, sowie sechs von Hanks’ Männern (lediglich Davies und Burns überleben), einschließlich diesem selbst. Das zusätzlich vier Männer aus Ryans eigener Einheit getötet wurden, soll nicht auch noch Ryan zur Last gelegt werden. “Earn this“, raunt Hanks schließlich Ryan zu, dessen Leben in diesem Moment das von sechs anderen Männern aufwiegt. Welche psychologische Belastung daraus resultieren muss für jemand, der weiß, er lebt nur, weil neun Männer sterben mussten? Das wäre doch ein Stoff für ein richtig gutes Drama. Aber wir sind ja in einem Spielberg-Film.

Zum Schluss springt Spielberg zurück zum Normandy American Cemetery. Hier kniet nun der alte James Ryan, der (nach den Bildern zu urteilen) nicht mehr mit seinem Leben hingekriegt hat, als zu heiraten und (Enkel-)Kinder zu bekommen. Was Vin Diesel, Giovanni Ribisi, Barry Pepper, Adam Goldberg, Tom Sizemore und Tom Hanks sicher auch gelungen wäre. Am Ende ist Ryan ein Normalo. Ein G.I. Joe eben.

“Tell me I have led a good life“, stellt er seiner Frau - die scheinbar zum ersten Mal mit ihm in Colleville-sur-Mer ist und den Namen “John H. Miller“ noch nie gehört  hat - schluchzend eine Suggestivfrage. Diese bestätigt das natürlich, weil sie ohnehin - wie auch der Zuschauer - keine Ahnung hat, was das ganze Theater, das Spielberg hier präsentiert, eigentlich soll.

Was bleibt von Saving Private Ryan? Die Geschichte von acht Menschen, von denen Sechs starben, damit ein Anderer nach Hause konnte. Von wahren amerikanischen Helden also (Hitler hätte nie acht Nazis nach Stalingrad geschickt, damit sie Soldat Thomas Müller nach Hause bringen, da drei andere dicke, kleine Müllers bereits gefallen waren). Von Eingeweiden und Ruhm. Spielberg erschuf einen Film, der sich während seiner zweieinhalb Stunden Laufzeit kein einziges Mal ernsthaft damit auseinandersetzte, ob - und wenn ja, warum - es gerechtfertigt ist, das Leben von acht Menschen zu riskieren, um ein einziges zu retten.

Beziehungsweise steht nach Hanks’ eigener Rechnung aus der Kirchenszene ein geopfertes Leben eines seiner Soldaten für zehn bis zwanzig gerettete Leben. Dadurch, dass also sechs Männer aus Hanks’ Truppe sterben, konnten 60 bis 120 andere Personen nicht gerettet werden, damit der Soldat James Ryan heim zu seiner Mama darf.

Saving Private Ryan... FUBAR. Fucked Up Beyond All Repair.


Filmausschnitte von Saving Private Ryan © Paramount Home Ent.
(Hervorhebungen in den Bildern vom Verfasser vorgenommen)