29. Oktober 2010

Van Diemen’s Land

A man with no blood on his hands is no man.

Die Geschichte des Staates Australien begann als Strafkolonie des britischen Königreichs. Das Ende der Welt als letztes großes Gefängnis, wie es auch in Van Diemen’s Land an einer Stelle heißt. Das Van-Diemen-Land selbst bezeichnet dabei die heutige Insel Tasmanien, die 1642 von dem niederländischen Seefahrer Abel Tasman entdeckt und seiner Zeit nach Tasmans Sponsor Anton van Diemen benannt wurde, ehe man ihr 1856 den Namen ihres Entdeckers zuschrieb. Dabei stellte Tasmanien von 1830 bis 1853 das hauptsächliche Strafgefangenenlager der Briten auf dem australischen Kontinent dar. In der Weltgeschichte dürfte Tasmanien am ehesten durch sein Wappentier, den Tasmanischen Teufel, bekannt sein, der als tierischer Vertreter seinen Platz in Warner Bros. Looney-Tunes-Truppe gefunden hat. Und wenn in Van-Diemens-Land einst Gefangene lebten, liegt die Vermutung nahe, dass diese auch Fluchtversuche unternommen haben. Einen dieser Versuche, der auf besondere Art und Weise endete, adaptierte nun Jonathan auf der Heide.

Im Jahre 1822 ergriffen acht britische Strafgefangene, unter ihnen Engländer und Iren, die Flucht von ihrer Kolonie im Gestrüpp des Van-Diemens-Landes. Unter der Führung von Robert Greenhill (Arthur Angel), versuchen die Männer sich zum Meer durchzuschlagen, wo sie ein Schiff zurück in die Heimat bringen soll. Doch ein großes Problem der Männer ist ihre fehlende Verpflegung, da sie lediglich ein paar Laibe Brot mit sich schleppen. Nachdem sich in den Wäldern auch keine Lebewesen jagen lassen, stellt sich bei einigen wie Alexander Dalton (Mark Leonard Winter) schon bald Hoffnungslosigkeit ein. Der ohnehin verletzte Dalton will sich stellen, doch dazu kommt es nicht mehr. Um das Überleben der anderen zu sichern, beschließen Greenhill und sein Liebhaber Matthew Travers (Paul Ashcroft), Dalton mit Einverständnis von dessen Landsmann Alexander Pearce (Oscar Redding) zu töten und zu verspeisen. Der aufkommende Kannibalismus treibt zwei der anderen Flüchtlinge zurück zu den Briten, während die restlichen Fünf weiterziehen. Doch auch deren Zahl geht Stück für Stück zurück.

Mit Van Diemen’s Land inszenierte Regisseur auf der Heide letztlich eine Langversion seines ein Jahr zuvor erschienenen Kurzfilmes Hell’s Gate, der sich mit demselben Thema beschäftigte und auch über die fünf selben Hauptdarsteller verfügte. Hinsichtlich der Geschichte der acht Flüchtlinge, die sich schließlich gegenseitig umbringen und aufessen, mag man sich die Frage stellen, ob es dazu nach einem zwanzigminütigen Kurzfilm noch einer fünf Mal so lange Kinoversion bedurft hätte. Denn wenn die Flucht durchs Van-Diemens-Land erst beginnt, geschieht generell eigentlich nichts mehr in auf der Heides Film. Das Überraschende an Van Diemen’s Land ist nun jedoch, dass sich entgegen dem, was man erwarten würde, keine Langeweile einstellt. Es sind ruhige Szenen, die der Regisseur hier auf das Publikum loslässt, und nur gelegentlich werden diese von der Erzählstimme Alexander Pearces durchbrochen, wenn er über das Strafgefangenensystem im Allgemeinen und seine Stellung in diesem im Speziellen philosophiert.

Das Publikum wird mit fortlaufender Dauer Zeuge der menschlichen Abgründe, die sich im Van-Diemens-Land auftun. Diese begründen sich durch das Dasein als Strafgefangene, die wie Pearce, der sechs Schuhe gestohlen hat, für Nichtigkeiten verurteilt wurden. Der Blick über den Film hinaus auf die wahre Geschichte von Pearce verrät dann jedenfalls eine Interpretation, die in Van Diemen’s Land weniger auf ihn denn auf Greenhill passen will. Nämlich der Gefallen am menschlichen Fleisch. Ungeachtet der Tatsache, dass man eigentlich noch genug von diesem hat, wird dennoch weiter munter drauflos gekloppt, sodass es nur eine Frage der Zeit ist, ehe sich die letzten beiden Überlebenden mit offenen Augen am Lagerfeuer gegenüber liegen. Dies alles wird von auf der Heide nicht effekthascherisch in Szene gesetzt und auch ohne großen Spannungsbogen. Es ist ein Abfilmen grauenvoller Ereignisse, die für sich stehen und derer es keiner weiter Hervorhebung bedarf.

6.5/10 - erschienen bei Wicked-Vision

27. Oktober 2010

El secreto de sus ojos

Als im Februar die Oscars verliehen wurden, dachten alle, das Das weiße Band schnappt sich die Auszeichnung als bester fremdsprachiger Film. Mit Jacques Audiards brillanten Genrebeitrag Un prophète war ein weiterer Konkurrent im Rennen. Am Ende gewann überraschend Juan José Campanellas El secreto de sus ojos. Ein gelungenes argentinisches Drama über die Folgen des Peronismus, dabei über ein Vierteljahrhundert hinweg sowohl eine Liebes- wie eine Kriminalgeschichte miteinander verwebend. Garniert wird das Ganze mit tollen Darstellern und beeindruckenden Kamerafahrten. Mehr zum Film habe ich beim Manifest geschrieben.

7.5/10

24. Oktober 2010

Scott Pilgrim vs. the World


If your life had a face, I would punch it in the balls.
(Scott Pilgrim Gets It Together, p. 149)

Eine Mütze bedeckt seinen Kopf, die Augen fixieren ein Computerspiel. Er ist Mitglied in einer nerdigen Welt. Daran besteht kein Zweifel. Dafür braucht es nicht die deplatziert wirkende Mütze, das Videogame oder die Comic- und Skateboardeinbindungen ins Geschehen. Er teilt sich sein Leben mit einer Frau, die ihm in gewisser Hinsicht nicht unähnlich ist. Beide hängen noch alten Beziehungen hinterher; emotionaler Ballast und fehlende Reife zeichnen sie aus. Sie bevölkern ihre eigene kleine Welt, in der auch mal einem Videospiel gleich Lebensbalken am oberen Bildschirmrand auftauchen oder in Panik aus dem Fenster gesprungen wird. Es ist das Leben von Tim (Simon Pegg) und Daisy (Jessica Hynes), zweier Slacker, die eine WG gründen. Sie entstammen der britischen Sitcom Spaced von Regisseur Edgar Wright. Das Ganze geschah 1999, fünf Jahre ehe der kanadische Comicautor Bryan Lee O’Malley mit Scott Pilgrim für Oni Press eine der Comicreihen des letzten Jahrzehnts entwarf.

Im Juli 2004 erschien Scott Pilgrim’s Precious Little Life, eine Geschichte eines Antihelden, wie er im Buche steht. Die Titelfigur ist ebenjener 23-jährige Scott Pilgrim, der sich gerade zwischen zwei Jobs befindet (lies: arbeitslos ist). Er teilt sich eine Einzimmerwohnung mit dem homosexuellen Wallace Wells, der neben der Wohnung selbst und dem Inventar auch die Lebensmittel bezahlt. O’Malleys Geschichte setzt ein, als Scott seinen Freunden und Bandmitgliedern mitteilt, dass er mit der 17-jährigen Knives Chau eine High Schoolerin dated. Allerdings nur so lange, bis er der aus Amerika nach Toronto zugezogenen Ramona Flowers begegnet - in seinen Träumen. Als er sie schließlich zu einem Rendezvous überzeugt und mit Knives Schluss macht, führt O’Malley schließlich den MacGuffin seiner Geschichte ein: Ramonas sieben Ex-Freunde. Um mit der Amerikanerin zusammen sein zu können, muss Scott ihre Ex-Liebhaber im Kampf bezwingen. Und mit diesen auch Ramonas Bindungsangst.

Scott wirkt wie eine unsympathische Figur, sagt doch selbst seine beste Freundin Kim, dass wenn sein Leben ein Gesicht hätte, sie es schlagen würde. Mit dem geringstmöglichen Aufwand kriegt Scott wenn schon nicht das größtmögliche Ergebnis dann doch eines, das ergiebiger ist als das, was er reinsteckt. Um die finanziellen Dinge kümmert sich Wallace, und Scott hangelt sich von der einen Freundin zur anderen. „You seem really fine doing nothing. It’s like you don’t feel all that bullshit pressure to be successful”, legte Noah Baumbach in Greenberg einer Figur einen Satz in den Mund, der auch auf Scott Pilgrim zutreffen würde. Dabei hat auch Scotts Leben eine Schattenseite, die erst später, speziell in Scott Pilgrim & the Infinite Sadness und Scott Pilgrim’s Finest Hour, beleuchtet wird. Stück für Stück werden die thematischen Schwerpunkte in die locker-flockige Handlung eingestreut. Zwar wird die Geschichte um die sieben Kämpfe strukturiert, diese dann jedoch stets in wenigen Panels abgehakt.

Die eigentliche Geschichte behandelt eine Gruppe von Twens, die versucht, sich im Leben zu recht zu finden. Scott Pilgrim erzählt von Bindungsangst, von emotionalem Ballast, davon, Schlussstriche zu ziehen und nach vorne statt zurück zu blicken. Die Reifeprozesse seiner Figuren stagnieren, neben ihren wöchentlichem Jam Sessions treiben sich manche wie Stephen Stills in einer Restaurantküche rum, andere wie Kim arbeiten in der Videothek oder wie Scotts kleine Schwester Stacey in einem Coffee Shop. Was auf Scotts „berufliche“ Situation zutrifft, lässt sich auf das Leben von ihnen allen münzen. Sie befinden sich nicht zwischen zwei Jobs, sondern zwischen zwei Leben. Mit dem College haben sie abgeschlossen, ihren Platz jedoch noch nicht gefunden. Bindungsängste eben, in der Karriere, wie im Leben. Keine Figur, die bei O’Malley nicht einer oder einem Ex hinterher trauert. Letztlich ist seine gesamte Comicreihe ein Reifeprozess, ein Coming of Age, für alle Figuren, nicht nur für Titelprotagonist Scott.

Ein thematisches Feld, welches Edgar Wright bestens kennt, nicht nur durch Spaced, sondern auch durch dessen geistiges Kind Shaun of the Dead. Tim, Shaun, Scott - sie alle sind zockende Nerds, Slacker, Loser im Verständnis des kapitalistischen Establishments. Und sie alle hängen emotional an einer Frau, egal ob sie Sarah, Liz oder Envy Adams heißt. Somit schien der englische Regisseur prädestiniert zu sein für eine Adaption der in der Szene vielbeachteten und populären Scott Pilgrim-Reihe. Für Wright wiederum stellt das Projekt seinen nächsten Karriereschritt dar - gen Hollywood. Das 12-Millionen-Dollar-Budget von Hot Fuzz verfünffachte sich zu 60 Millionen Dollar für Scott Pilgrim vs. the World. Eine gewagte Investition, die letztlich in einen kreativen Output floß, dem mit einem weltweiten Einspiel von 47 Millionen Dollar kein finanzieller Input folgte. Zu nah war Wrights Adaption an der Vorlage. Und damit zu weit weg, vom Massenkompatiblen Kinopublikum.

Das fängt bereits mit dem Universal-Logo zu Beginn im 8-bit-Format an und setzt sich in den folgenden 110 Minuten fort, in denen sich Wright offensichtlich darin bemüht, Panel für Panel der Vorlage treu zu bleiben. Der Engländer übernimmt die Urinskala als Scott Pilgrim (Michael Cera) aufs Klo geht, er versieht die meisten Geräusche lautmalerisch mit entsprechenden Zuweisungen. Es „dingt“, wenn jemand an der Tür ist oder „ringt“, wenn das Handy klingelt. Und auch Kims (Alison Pill) Drum-Set-Anweisungen werden angezeigt. Wenn der Zuschauer in Scotts und Wallaces (Kieran Culkin) Wohnung eingeführt wird, etikettiert Wright wie O’Malley die Gegenstände nach ihrem Besitzer. Dies alles ist ungemein bemüht und zugleich charmant, wenn die Kämpfe einem Capcom-Spiel gleich kommentiert („Combo!“, „K.O.!“) oder mit Charakterstärken ausgezeichnet werden. Der Film besitzt eine Visualität, die ihn auszeichnet und vereinnahmt, die letztlich aber auch zum Hauptdarsteller mutiert.

Etwa 110 Minuten dauert Scott Pilgrim vs. the World und Wright versucht, alle sechs Bände zu integrieren. Ein Unterfangen, das nur scheitern kann und es auch tut, denn um dem Comic so gerecht zu werden, wie Wright es möchte, langt ihm schlichtweg die Laufzeit nicht. Wird der erste Band quasi 1:1 integriert (wenn auch innerhalb von 15 Minuten rasch abgespult und somit ob seiner Hast zur Last), selektiert Wright anschließend Häppchenweise Elemente und Momente, versucht sie zu einem Konstrukt zu stricken, das zwischen den Kampfszenen aufgezogen wird. Und hier liegt, wie in den meisten Comicverfilmungen, der Fehler. Denn die Kämpfe gegen die sieben Ex-Freunde von Ramona (Mary Elizabeth Winstead) sind an sich belanglos - ein MacGuffin. Dementsprechend hakt sie O’Malley meist sehr schnell ab (so beansprucht der „Kampf“ gegen Lucas Lee im Comic nur wenige Panels), wohingegen sie Wright, sicher auch wegen Lee-Darsteller Chris Evans, auf das Doppelte ausgedehnt.

Was Scott Pilgrim ausgezeichnet hat, sucht man im Film vergebens. Kaum vorhanden ist die Bindungsangst von Ramona, deren Bedeutung bei Wright ohnehin primär die einer Trophäe darstellt. Dementsprechend verlieren auch die Ex-Freunde, speziell Gideon (Jason Schwartzman), an Tiefe, da ihre und Ramonas Geschichte - hier und da als Flashback in ursprünglicher Comic-Form integriert - irgendwann nicht einmal mehr angesprochen wird. Am deutlichsten wird dies im Fall der Katayanagi-Zwillinge (Keita & Shota Saito), denen nicht einmal eine einzige Dialogzeile vergönnt ist, da sie mit Darstellern besetzt wurden, die der englischen Sprache nicht mächtig sind. Somit irgendwie logisch, dass das große Thema des emotionalen Ballastes und des Ziehens von Schlussstrichen auch weitestgehend unter den Tisch gekehrt wird. Das zeigt sich schon daran, dass eine Figur wie Envy Adams (Brie Larson), bei O’Malley mit ihrem eigenen Band (Scott Pilgrim & the Infinite Sadness) ausgestattet, zur Randfigur wird.

Ohnehin spielt in Scott Pilgrim vs. the World niemand eine Rolle, außer Michael Ceras Scott. Insofern Figuren wie Lisa Miller oder Joseph nicht ganz aus der Handlung eliminiert wurden, sind sie wie Kim oder Envy zu Stichwortgebern degradiert. Die Bedeutung der Charaktere, insbesondere für Scott und somit die Handlung, geht verloren. Szenen und Momente werden aus ihrem Zusammenhang gerissen, zum Beispiel dass Todd (Brandon Routh) einst für Ramona ein Loch in den Mond schlug, einzig um einer amüsanten Anekdote Willen. Dass Kim und Scott mal ein Paar waren, ist für Wrights Film unerheblich, da er diesem Handlungsstrang keine Bedeutung schenkt. Wieso er jedoch ebenso angesprochen wird wie die Beziehung von Stephen Stills (Mark Webber) und Julie (Aubrey Plaza), die für den Filmverlauf unerheblich ist, bleibt fraglich. Zudem verabschieden sich nahezu alle Figuren nach dem zweiten Drittel aus unerklärlichen Gründen, ohne dass sie zuvor von Mehrwert waren.

Das Problem von Wrights Scott Pilgrim vs. the World ist in diesem Fall style over substance. Was umso verstörender ist, wenn man bedenkt, dass Wright dasselbe Thema wie hier mit mehr Fürsorge in Spaced umgesetzt hat. Seine Szenenauswahl ist es jedoch, die seinen ersten Hollywood-Film zu keinem kohärenten Ganzen werden lassen will. Denn wenn der Kern einer Geschichte vernachlässigt - oder wie in diesem Fall: ausgelöscht - wird, funktioniert die Geschichte auch trotz allerlei liebe- und detailvoller Optik nur bedingt. So nett und gelungen Szenen wie Crash and the Boys oder die Seinfeld-Hommage (die in diesem Fall originär aber auch sehr langatmig ist) auch sind, entschädigt das nicht für jene wichtigen Szenen, die die Geschichte ausmachen. Oder wie schon bei Zack Snyders Watchmen der Fall: Eine Treue zu den einzelnen Panels entspricht nicht einer Treue zum Comic. Gerade von Watchmen hätte Scott Pilgrim vs. the World viel lernen können. Umso bedauerlicher, dass dies nicht geschah.

In beiden Fällen ging die Rollenbesetzung zum Teil gehörig in die Hose. Zwar wird eine fehlbesetzte Alison Pill als Kim dadurch entschädigt, indem ihre Figur im Film kaum auftaucht, aber dennoch zählt sie wie Aubrey Plaza, Brie Larson, Anna Kendrick, Thomas Jane und insbesondere Michael Cera zu den großen Fehlern von Edgar Wrights Film. Gerade Cera ist mit seiner obligatorischen eingeschüchterten Flüsterstimme plus patentiertem Dackelblick phänomenal an der Figur vorbeibesetzt. Er bleibt über die gesamte Spielzeit Michael Cera (ein Schauspieler, der es wie kein Zweiter in den letzten Jahren versäumt hat, sich weiterzuentwickeln) und avanciert nie zu Scott Pilgrim. Das es auch besser geht, zeigt vor allem Ellen Wong, die als „Scottaholic“ Knives Chau ein Traum ist. Keine andere Person scheint ihren Part so gut verstanden zu haben, wie die 25-jährige Kanadierin. Ihre Darbietung ist neben der visuellen Ästhetik der Höhepunkt eines Filmes, der ansonsten zu selten sein Potential ausschöpft.

Insofern ist Scott Pilgrim vs. the World ein zweischneidiges Schwert. Wrights Bemühungen, sich visuell an der Vorlage zu orientieren, gehen oft auf, obschon sie bisweilen - gerade im überhastet abgespulten ersten Akt - verloren gehen. Zwar sind Ramonas Ex-Liebhaber bis auf die nutzlosen Saitos punktgenau besetzt, allerdings leiden sie größtenteils an ihrem geraubten Hintergrund (nur Matthew Patel und Todd erhalten eine Comic-Flashback-Erläuterung). Der fehlende Hintergrund, der zwar bei Wright gelegentlich impliziert, aber nie gebührend erläutert wird, ist es auch, der allen Figuren - und mit ihnen der Handlung selbst - das Genick bricht. Von O’Malleys eigentlicher Geschichte (commitment, closure, coming of age, emotional baggage) ist in Wrights Film jenseits der Oberfläche nicht mehr viel übrig geblieben. Und das, was es auf die Leinwand geschafft hat (warum auch immer, die Auswahl des Engländers ist selten nachvollziehbar, siehe die Integration von Negascott im Finale), vermag sich nicht wie eine stringente Geschichte anzufühlen.

Die Verfilmung eines Comics stellt somit weiterhin eine diffizile Angelegenheit dar (trotz exzellenter Beispiele wie Hulk oder Bryan Singers X-Men-Filme), von denen Sylvain Whites The Losers zwischen den misslungenen Scott Pilgrim vs. the World, Kick-Ass und Iron Man 2 dieses Jahr sichtbar herausragt. Und wie sich zeigt, scheinen auch die optimalen Voraussetzungen eines Edgar Wright durch Themenverwandte Projekte wie Spaced und Shaun of the Dead nicht auszureichen, um eine Geschichte in ihrem Kern getreu zu adaptieren. Weshalb sich der Brite neben seine Landsleute Matthew Vaughn und Christopher Nolan, sowie die amerikanischen Kollegen Zack Snyder und Jon Favreau einreiht. Vielleicht sollte Wright einfach einen erneuten Blick in O’Malleys Comics werfen, speziell in den finalen Band und auf Kims entscheidenden Rat an Scott: „If you keep forgetting your mistakes, you’ll just keep making them again“.

5.5/10

21. Oktober 2010

On the Waterfront


This ain’t your night.

Die McCarthy-Ära war keine gute Zeit für Hollywood. 1947 beschäftigte sich das Komitee für unamerikanische Umtriebe neun Tage lang mit möglicher kommunistischer Propaganda in Hollywood-Filmen. Es folgte die Liste der „Hollywood Ten“ und einige andere Diskreditierungen, darunter auch von Charlie Chaplin. Die meisten Kreativen, die unter den Verdacht eines kommunistischen Einflusses fielen, erholten sich nicht mehr von diesem. Umso schwerer musste die Bürde auf denen lasten, die vor das Komitee zitiert wurden, um auszusagen. So wie Regisseur Elia Kazan, der Mitte der 1930er für anderthalb Jahre der Kommunistischen Partei angehörte und 1952, 16 Jahre später, dazu aufgefordert wurde, Namen anderer Mitglieder aus der Branche zu benennen. “No matter which way you choose, you lose something“, macht Jeff Young, Kazans Biograf, im Audiokommentar zu dessen On the Waterfront das Dilemma deutlich.

Der Film entstand zwei Jahre nachdem Kazan vor dem Komitee aussagte und die Namen von acht ehemaligen Mitgliedern preisgab, die dem Komitee jedoch bereits bekannt gewesen waren. Im Grunde war dies wohl der einfachste Weg für Kazan, benannte er doch auf diese Weise Personen, ohne zugleich welche zu verraten. Dennoch wurde ihm seine Entscheidung hinterher von manchem Kollegen vorgehalten. Vielleicht entstand deswegen On the Waterfront - ein Film, in dem es um “knowing right from wrong“ geht, wie es Young ausdrückt. Ein Film über den Druck, das Richtige zu tun und dennoch falsch zu handeln. Young zu Folge wollte Kazan schon seit langem eine Geschichte über die “shenanigans on the waterfront“ drehen. Sechs Jahre zuvor war eine Artikelserie von Malcolm Johnson in der New York Sun über die Verbrechen auf den Docks erschienen und hatte 1949 sogar den Pulitzer Preis gewonnen.

Gemeinsam mit dem ehemaligen Hafenarbeiter Anthony DiVincenzo, der vor der Waterfront Commission ausgesagt hatte, war die Vorlage für Kazans Film gefunden. Mit der Hauptfigur Terry Malloy (Marlon Brando) installierte der Regisseur letztlich nicht nur ein filmisches Pendant zu DiVicenzo, sondern auch zu sich selbst. Dabei ist Terry keine besondere Figur, vielmehr ein ganz normaler Typ, wenn nicht sogar weniger. “I’d always figured I’d live a little bit longer without [ambition]“, gesteht der Ex-Boxer Terry. In den Augen des mafiösen Gewerkschaftsboss Johnny (Lee J. Cobb) gilt er zudem als “pigeon-drunk“, verbringt er seine Zeit doch gerne auf dem Hausdach, wo er Tauben züchtet. Dasselbe Hobby wie es Hafenarbeiter Joey hatte, der vor der Waterfront Commission aussagen wollte und mit Hilfe von Terry umgebracht wird. Dabei hätte Terrys Leben ganz anders aussehen können, hätte er einen Boxkampf nicht verloren.

“I coulda had class. I coulda been a contender. I coulda been somebody, instead of a bum, which is what I am”, gesteht Terry gegenüber seinem älteren Bruder Charley (Rod Steiger). Dieser hatte Terry einst dazu genötigt, einen Kampf zu schieben (“This ain’t your night“) - und damit die Zukunft seines Bruders für immer verändert. Widerstrebend ist Terry nun ein Botenjunge von Johnny, der in einer Mischung aus Sympathie und Loyalität einen Narren an ihm gefressen zu haben scheint. Zumindest so lange, wie Terry den Regeln der Waterfront folgt. Und dass die eine harte Welt ist, das wissen auch die Hafenarbeiter. “The waterfront is tougher [..] like it ain’t part of America“, sagt Dugan (Pat Henning) zu Beginn. Demenstprechend erklärt sich auch Terrys Lebensphilosophie: “Do it to him before he does it to you“. Auf den Docks ist sich eben jeder selbst der Nächste -  von diesem Problem weiß auch Father Barry (Karl Malden).

Die Arbeitsbedingungen sind hart. Weil die Mafia alles kontrolliert. Und um der Mafia Einhalt zu gebieten, darf man sie nicht mit Mord davonkommen lassen. Eine einfache Rechnung von Barry. “The Romans found out what a handful could do if it’s the right handful“, versucht er die Hafenarbeiter anzuspornen. Aber erst im Finale des Filmes, wenn sich Terry als messianische Figur Johnny gegenüber stellt und seine persönliche Passion erleidet, werden die Arbeiter aktiv. Und auch dann nur sporadisch und zäh. Die Gruppe ist nur so stark wie ihr stärkstes Glied, zeigt uns On the Waterfront hier. Denn die Docks sind “tougher“, als wären sie nicht Teil von Amerika. Wo Lebensphilosophien lauten: Eh du mir, so ich dir. Wo man ohne Ehrgeiz im Leben länger lebt. “Everybody loved Joey“, beklagt dessen Schwester Edie (Eva Marie Saint) nach seinem Mord zwar. Aber auf den Docks ist man “D and D“, erklärt Dugan. Deaf and dumb. Taubstumm.

“Doing the right thing is doing whatever you need to do to get to the top of that world“, beschreibt Young die Logik der Geschichte. Kazan erzählt von einer großen Welt, die in der Hand einer kleinen Gruppe ist. Wo jemand wie Charley the Gent zum Handlanger eines Gewerkschaftsbosses unter Mafiaeinfluss verkommt - und seinem Bruder die Zukunft raubt. Und ihn unweigerlich in dieser Welt festhält. “This ain’t your night“ verkommt so vielmehr zu einem: “This ain’t your life“. Und Youngs Satz “No matter which way you choose, you lose something” bewahrheitet sich für die meisten Figuren in On the Waterfront. Joey und Dugan bezahlen ihr Rückgrat ebenso mit dem Leben wie Charley, der sich nicht gegen Terry stellt. “Am I on my feet?“, fragt dieser im Finale des Filmes. Ein Satz, der sich jenseits seiner körperlichen Verfassung lesen lässt. Es sind Terrys Handlungen zum Schluss, die ihn wieder zu dem Mann machen, der er war.

So hat er am Ende wieder “class“, ist er wieder ein “contender“ und wird auf diese Weise zum “somebody“. Die Katharsis besorgt natürlich eine Frau. Ganz besonders delikat: Joeys Schwester. Als diese ihn an einer Stelle fragt, auf welcher Seite er steht, antwortet Terry entsprechend: “I’m with me, Terry“. Über ihre christliche Erziehung, dass sich jeder um den anderen kümmern müsse, kann er natürlich nur lachen (“Boy, what a fruitcake you are!“). Edie, die außerhalb der Stadt auf ein katholisches Mädcheninternat geht, kann nicht wissen, dass die Docks “tougher“ sind als der Rest von Amerika und Dinge bereithalten, die Terry als “ain’t fit for the eyes of a decent girl“ erachtet. Zur Läuterung kommt er durch die Liebe einer christlichen Frau und eines Gottesmannes. Im Finale selbst gibt er dann die messianische Figur, die sich für die Sünden aller opfert (“on the docks we’re D and D“) und dies fast mit dem Leben bezahlt.

Getragen wird On the Waterfront von Marlon Brando, der hier seinen ersten Academy Award abstaubte, der wiederum Bestandteil von insgesamt acht Auszeichnungen für Kazans Film war. Auch die übrigen vier Darsteller beeindrucken und wurden dementsprechend ebenfalls in ihren Kategorien nominiert (wobei nur Eva Marie Saint für ihre Debütrolle ausgezeichnet wurde). Für Kazan selbst dürfte der Film eine Genugtuung gewesen sein, bekam er doch zwei Jahre nach seiner Aussage vor dem HUAC den Preis für die beste Regie, während zugleich noch das Drehbuch von Budd Schulberg und der Film selbst prämiert wurden. Dass der Film seine HUAC-Aussage für einige Kollegen jedoch auch über Jahrzehnte hinweg nicht entschuldigte, sah man bei der Verleihung seines Ehrenoscars 1999, dessen Applaudierung Schauspieler wie Nick Nolte und Ed Harris boykottierten. “No matter which way you choose, you lose something”.

8.5/10

18. Oktober 2010

Classic Scene: Superbad - "People don't forget."

DIE SZENERIE: In drei Wochen feiern die Außenseiter Seth (Jonah Hill) und Evan (Michael Cera) ihren High-School-Abschluss. Um nicht als Jungfrauen aufs College zu gehen, versuchen sie auf Teufel komm raus ihre Unschuld zu verlieren. Die Chance dazu bietet sich, als Seths Schwarm Jules eine Party gibt. Da Evans und Seths Kumpel Fogell am selben Tag einen falschen Führerschein bekommen soll, lässt sich Seth dazu überreden, für die gesamte Party Alkohol zu besorgen. Sofort sucht er Evan während dessen Sportunterricht auf, um ihn über die Ereignisse und den geplanten Verlauf des Abends zu informieren.

EXT. SCHOOL FIELD - DAY

Evan is standing alone amidst the rest of his gym class as they play soccer.

GYM TEACHER: Go to the ball, guys. Evan, get into the game.

Evan tries to put in some effort and claps his hands encouragingly.

EVAN: Kick it over to me.

The class pass him without paying him any attention. Seth is jogging towards Evan.

GYM TEACHER: Seth! Get off the field!

Seth stops right in front of Evan, panting.

EVAN: Dude, get out of here. They’re gonna make me run laps again.

SETH (out of breath, worked up): Dude, just fucking listen, okay? Jules and her stupid fucking friend came up to me and they asked me to buy her alcohol. But not just her, for her whole party. You know what that means? By some divine miracle, we were paired up and she actually thought of me. Thought of me enough to decide I was the guy she would trust with the whole fun-ness of her party. She wants to fuck me. She wants my dick in or around her mouth.

Seth is still panting.

EVAN: Did you ever think that maybe she’s just using you to get her alcohol? She doesn’t want your dick.

SETH: Yes. Of course I thought of that. That’s like the first thing that came to my mind. Just listen.

INT. FOODS AND NUITRITION ROOM (FLASHBACK)

The same scene as before with Seth and Jules in class.

JULES: My older brother always says, like, the nastiest shit. Like he called my “hymen” until I was 12. (pauses) Seth, I wanna blow you.

EXT. SCHOOL FIELD - PRESENT

EVAN: She didn’t say that. Come on.

SETH: Ah, she didn’t say the second part, but the first one - She’s got an older brother. And she could have asked him but she asked me. She looked me in the eyes and said: “Seth, mama’s making a pubie salad. And I need some Seth’s Own dressing.” She’s D.T.F. She’s down to fuck, man. P in vagi. She wants to…”

Seth looks behind his back where a pass is played in the soccer game. He intervenes and kicks the ball aside.

SETH (cont.): …fuck, man. Tonight is the night that fucking is an actual possibility.

EVAN: You just sound like an idiot. You’re not gonna be able to sleep with her, man.

SETH: No. Dude, I know I talk a lot of shit, okay? But she’s gonna be at the party and she’s gonna be drunk. And she likes me at least a little. Enough to get with me. At the very least, I’ll make out with her. Two weeks, handjob. Month, blowjob. Whatever, whatever. And then I make her my girlfriend. And I’ve got, like, two solid months of sex. By the time college rolls around I’ll be like the Iron Chef of pounding vag.

Evan looks at the progress of the game.

EVAN: Can we talk about this later?

The soccer ball rolls towards them. They both watch as it rolls by.

CLASSMATE: What the hell, Evan? We’re down two points.

Evan has his hands in his pockets, making no movement whatsoever.

EVAN: Fucking calm down, Greg. It’s soccer. It’s soccer.

GREG: Fuck you, man.

SETH: Hey, Greg, why don’t you go piss your pants again?

GREG: That was, like, eight years ago, asshole.

Greg turns around and joins the game again.

SETH (shouts after him): People don’t forget.

Seth turns to Evan.

SETH (cont.): Do you wanna hear the best part? Becca. You do the same thing with her. When you guys are shitfaced at the party, you get with her. This is our last party as high school people. I’ve fully ignored my hate for Becca in coming up with this plan. I’m flexing nuts. Just fucking come with me on this voyage and just stop being a pussy for once and we can fucking fuck some girls already.

EVAN: I should buy Becca alcohol?

SETH: Yeah, man, it’ll be pimp. That way you know she’ll be drunk. You know when you hear girls say: “Ah, I was so shitfaced last night. I shouldn’t have fucked that guy.” We could be that mistake!

Evan ponders the issue.

EVAN: Have you talked to Fogell?

SETH: All right, you talk to Becca. I’ll talk to that retard, Fogell. Don’t worry.

Seth turns to leave the field finally.

GYM TEACHER (O.S.): Seth, get off the field!

The ball rolls over to Seth.

SETH: Goal.

He kicks the ball off the field and then runs away.

GYM TEACHER (O.S.): You’re getting that.

SETH (O.S.): No, I’m not!

14. Oktober 2010

The X Files - Season Eight

This is not happening.

Wenn eine Sportmannschaft über Jahre zusammenspielt, tritt gelegentlich etwas ein, was man als Sättigungseffekt bezeichnet. Nicht von ungefähr werden in manchen Fällen dann die Trainer wie Socken gewechselt, um jeweils auf ihre Art das Beste aus den Spielern zu kitzeln, oder stattdessen eine gesunde Fluktuation an Spielermaterial betrieben. Sieben Jahre hieß das dynamische Duo auf dem Mystery-Sektor Mulder und Scully. Stets ging es darum, die Verschwörung eines Syndikats aufzudecken, welches insgeheim mit Außerirdischen an einer bevorstehenden Kolonialisierung arbeitete. Mit jener Verschwörung hatte es sich dann in der Mitte der sechsten Staffel erledigt. The X Files drohte fortan allmählich in einer Spirale zu enden, die sich nach unten bewegt. Und da Hauptdarsteller David Duchovny ohnehin sein Glück im Spiel der Großen versuchen wollte, schien Fluktuation auch für Chris Carter des Rätsels Lösung zu sein. Ein Schema, das mit Abstrichen auch aufging.

Im vorangegangenen Staffelfinale wurde Special Agent Fox Mulder (David Duchovny) nun selbst von Außerirdischen entführt, was der achten Staffel ihre Prämisse verleiht. Im Staffelauftakt wird Agent John Doggett (Robert Patrick) von Deputy Director Kersh (James Pickens, Jr.) mit der Suche nach Mulder beauftragt. Die Spur scheint zu Gibson Praise zu führen, weshalb sich auch Dana Scully (Gillian Anderson) und Assistant Director Skinner (Mitch Pileggi) auf die Reise machen. Der Doppel-Auftakt mit Within/Without setzt dann zugleich auch erstmal ein Ende unter die Suche nach Mulder. Doggett wird den X-Akten zugeteilt, die bis zur Mitte der Staffel wie gewohnt fortgesetzt werden, ehe es zu Mulders spektakulärer Rückkehr nicht nur aus dem Weltall, sondern auch dem Reich der Toten kommt. Die Serie bleibt sich dabei in ihrer Staffelachse treu, drehen sich doch auch hier Anfang, Mittelteil und Ende um reine Serienmythologie.

Und wie so oft wollen sie nur leidlich überzeugen. Ist der Auftakt noch eine gelungene Form, um Doggett ins kalte Wasser zu schmeißen, wirkt die Mulder-Trilogie (This Is Not Happening/Deadalive/Three Words) reichlich unausgegoren. Das Doppel-Finale aus Essence und Existence, zu dem im Grunde thematisch auch die zwölfte Episode Per Manum zu zählen wäre, dreht sich dagegen um Scullys Baby und seine mögliche Verbindung zu den Außerirdischen. In allen drei Fällen bekommen die Zuschauer solide Unterhaltung, die allerdings zu sehr in die Länge gezogen wird und dadurch Redundanzen entwickelt. Man merkt es der Serie inzwischen an, dass zumindest in mythologischer Hinsicht allmählich die Ideen für eine Inanspruchnahme von Mulder und Scully rar werden. Immerhin wurden inzwischen auch etliche Felder für die Beiden abgegrast.

Da nervt es auch, wenn die Macher weiterhin versuchen, in der Beziehung der beiden Agenten um den heißen Brei zu reden. Zwar ist Mulder in der ersten Hälfte der Staffel nicht anwesend, dennoch zeigen Within (Scully verbringt die Nacht in Mulders Bett) oder Per Manum (es wird impliziert, dass Mulder der Samenspender für Scullys Baby ist), dass sich ihre Beziehung intensiviert hat. Dies setzt sich auch nach Mulders Rückkehr fort, wenn beide in Empedocles mal wieder ihr Eifersuchtsspiel - hier allerdings humoristisch - fortführen, wie Mulder ohnehin erstaunlich oft in Scullys Wohnung vorzufinden ist. Im Staffelfinale Existence bescheren Carter und Co. dann schließlich das, was sich der Fan schon seit Jahren gewünscht hat: Mulder und Scully küssen sich. Die Schlussszene suggeriert ebenfalls, was aus unerfindlichen Gründen nie vollends bestätigt wurde: Dass William in der Tat Mulders Sohn ist.  

Im Grunde also alles irgendwie beim Alten, aber dennoch gefällt die achte Staffel gerade wegen ihrer Frischzellen-Kur. Wie nach sieben Jahren zu erwarten war, werden nun die Rollen vertauscht. Scully ist die Gläubige, Doggett der Skeptiker. Der männliche Wechsel geht erstaunlich sauber und unproblematisch von Statten. Man akzeptiert Doggett sofort, was auch an Patricks sympathischem Spiel liegen dürfte. Zwar bleibt er eigentlich die gesamte Staffel hindurch weiterhin stets skeptisch, allerdings bleibt sich auch Scully ihrer zurückhaltenden Art weitestgehend treu (wie in der grandiosen Schlusseinstellung aus Alone zu sehen ist). Etwas verhaltener reagiert man da bezüglich Annabeth Gishs Figur der Monica Reyes, die sich zwar offener, aber deswegen nicht unbedingt entsprechend naiv gibt. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Serie nun über vier, wenn man Skinner mitzählt: fünf, Darsteller verfügt, die aus keiner ethnischen Minderheit stammen. 

Bei einer Episodenzahl von 21 und acht Folgen, die sich mit Mulders Obduktion oder Scullys Baby beschäftigen, bleibt nicht mehr viel Raum für die obligatorischen Monster-of-the-Week-Geschichten. Diese drehen sich um Fledermaus-, Reptil- oder unzerstörbare Metallmänner (man merkt die Redundanz), kleinwüchsige indische Parasiten, Geister von toten Kindern, Reinkarnationssektierern oder übernatürliche Serienmörder. Für kreative Ideen blieb nicht viel Raum, weshalb die meisten Folgen auch lediglich auf einem durchschnittlichen Niveau spielen. Es scheint der neuen Partnerkonstellation geschuldet, dass sich die selbstironischen Episoden dieses Mal in Grenzen halten. Lediglich Alone vermag leichte Anflüge davon zu versprühen, allerdings ist hier auch Mulder wieder mit an Bord. Wirkliche Höhepunkte wollen sich nicht finden lassen, hervorstechen können lediglich Redrum (eine Folge in der Tradition von Monday), The Gift und die Auftaktfolge Within.

Bereits in der siebten Staffel wurden die Gastauftritte aus finanziellen Gründen auf ein Mindestmaß reduziert. So muss man in dieser Staffel durchweg auf William B. Davis - der zu diesem Zeitpunkt noch als verstorben gilt, was er jedoch schon mal tat - und Lauren Holden verzichten. Letztere wird, wenn man so will, durch Adam Baldwin als Knowle Rohrer ersetzt, der diese Rolle in drei Episoden repräsentiert. Nicholas Lea ist das einzige bekannte Gesicht, dass auch in diesem Jahr für drei Folgen zurückkehrt. Wirkliche Gastdarsteller gibt es nicht, allenfalls Deep Roy (Badlaa), Grant Heslov (Via Negativa), sowie Danny Trejo und Joe Morton (beide Redrum) lassen sich wohl als solche bezeichnen. Ansonsten entdeckt das geschulte Serienauge in Ken Jenkins (Medusa) und Wade Williams (Salvage) alte Vertraute. Zusätzlich setzt sich die „Tradition“ fort, mit Michael Bowen (Surekill) und M.C. Gainey (Vienen) erneut zwei (spätere) Losties zu engagieren.

Ähnlich wie Scrubs fast ein Jahrzehnt später, stellt im Grunde bereits die achte Staffel von The X Files deren Ende dar. In Alone findet sich die letzte Monster-of-the-Week-Folge mit Involvierung von Mulder, der anschließend nur noch in mythologischen Episoden auftrat. In der neunten Staffel würde Duchovny wieder durch Abwesenheit glänzen, während Figuren wie Skinner und Reyes verstärkt in den Vordergrund gehoben wurden. Trotz eines späteren Kurzauftritts markierte das Staffelfinale auch den Abschied von Nicholas Leas Kultfigur des Alex Krycek. Insofern lässt sich also von der neunten und letzten Staffel nur bedingt wirklich noch von The X Files sprechen, begann die Serie in ihren letzten Episoden doch in gewisser Hinsicht eine neue Form anzunehmen. Im Vergleich zu schwächeren Staffeln wie insbesondere der Dritten baut die Serie im achten Jahr nochmals ein wenig ab. Stellte die siebte Staffel quasi die Todesmitteilung dar, repräsentiert ihr Nachfolger nun den Fall ins Koma.

7/10

11. Oktober 2010

Vorlage vs. Film: Romeo and Juliet

Romeo and Juliet (1595/96)

Für die einen ist er der größte Dramatiker aller Zeiten, für die anderen lediglich ein Pseudonym. William Shakespeare soll im April 1564 in Stratford-upon-Avon geboren worden sein und heiratete als 18-Jähriger Anne Hathaway. Mit Ende zwanzig fand er erstmals Erwähnung als Theaterautor und als er am 23. April 1616 verstarb, waren 18 seiner 37 Stücke publiziert worden. Galt Ende des 16. Jahrhunderts Christopher Marlowe als der größte Dramatiker des elisabethanischen Zeitalters, zog Shakespeare zumindest was die Bekanntheit angeht über die Jahrhunderte hindurch an seinem Zeitgenossen vorbei. Glaubt man Ulrich Suerbaum, so war Romeo and Juliet seiner Zeit für Shakespeare sein „erster großer und dauerhafter Erfolg“ im Tragödienfach. Inzwischen gelten die beiden „star-cross’d lovers“ als „das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur“ - was sich auch dadurch zeigt, dass es seit seiner Entstehung kontinuierlich aufgeführt wurde. De facto war es zwischen 1751 und 1800 mit 399 Aufführungen sogar Shakespeares meistgespieltes Stück.

Der Ruhm, der dem Stück gebührt, ist bemerkenswert. Nicht zuletzt, weil es nicht in seiner Originalfassung vorliegt. Die meisten Versionen greifen auf die zweite Quartfassung zurück, eine Rohfassung von Shakespeare, die bisweilen durch die schlechte erste Quarto, basierend auf Erinnerungen der Schauspieler, ergänzt wird. Wäre Romeo and Juliet also ein Drehbuch, müssten wir uns mit einem First Draft begnügen, während Shakespeares Final Draft im 16. Jahrhundert verschollen bleibt. Wie angesprochen handelt es sich bei seinem vermutlich berühmtesten Werk neben Hamlet und Macbeth um eine Tragödie. Erzählt wird von der „death-mark’d love“ zweier Kinder aus verfeindeten Häusern im würdevollen Verona. Die Handlung entstammt der italienischen Novellenliteratur des 16. Jahrhunderts, zu der neben Luigi Da Portos A Story Newly Found of Two Noble Lovers von 1530 auch Matteo Bandellos Romeo e Guilietta aus dem Jahr 1554 zählt. Von ihnen ließ sich Arthur Brooke zu The Tragicall Histroye of Romeus and Juliet (1562) inspirieren.

Shakespeare nahm die zugrunde liegenden Werke und bearbeitete sie nach seinem Gusto. Wie der Titel schon sagt, handelt das Stück von Romeo und Juliet. Beide werden, wie es sich für die Tragödie des elisabethanischen Zeitalters gehört, durch Fortunas Zutun zu Fall und damit zu Tode kommen. Mehr schlecht als recht leben die verfeindeten Häuser Montague und Capulet in Verona. Als mal wieder ein Streit ausbricht, droht der Verona regierende Prinz Escales mit drastischen Konsequenzen bei einem weiteren Friedensbruch. Sorgen, die den jungen Romeo nicht plagen. Stattdessen wird der einzige Sohn des Grafen Montague vom Liebeskummer heimgesucht, versagt sich ihm doch die schöne Rosaline. „He makes himself an artificial night“, bemerkt auch sein Vater (1. Aufzug, 1. Szene). Um seine Stimmung anzuheben und Rosaline zu verdrängen, schlägt Romeos Cousin Benvolio vor, eine abendliche Veranstaltung der Capulets zu besuchen. Dieser willigt, ahnt jedoch: „Some consequence yet hanging in the stars“ (1. Aufzug, 4. Szene).

Ein Ölgemälde von Fort Maddox Brown aus dem Jahr 1870 zeigt die berühmte Balkonszene
Das Schicksal nimmt auf der Feier seinen Lauf. Romeo erblickt Juliet, die Tochter des Grafen Capulet, der diese - insofern sie zustimmt - mit dem Grafen Paris vermählen will. Doch die Jugendlichen verlieben sich sofort und auf Initiative von Juliet wird noch in derselben Nacht der verfeindeten Familien zum Trotz die Ehe beschlossen. Da Juliets heißblütiger Cousin Tybalt jedoch Romeo auf der Feier erkannte und seine Anwesenheit als Affront empfand, sucht er diesen am nächsten Tag auf, um sich mit ihm zu duellieren. Der frisch Vermählte weicht aus, was von seinem besten Freund, dem nicht minder erregbaren Mercutio, zum Anlass genommen wird, Tybalt Einhalt zu gebieten. Durch Romeos unbeholfenes Einschreiten wird Mercutio tödlich verletzt und stellt das erste Opfer im Familienzwist dar („A plague o’ both your houses!“, 3. Aufzug, 1. Szene). Romeo rächt den Freund und flieht nach dem Mord an Tybalt und der nachgeholten Hochzeitsnacht mit seiner Angetrauten ins Exil nach Mantua.
Die Ereignisse überschlagen sich. Juliets Vater setzt nun die Hochzeit mit Paris fest. Um einen Suizid des Mädchens zu vermeiden, beginnt Bruder Lawrence, der die Jugendlichen getraut hat, ein gewagtes Spiel. Per Anästhetikum soll Juliet wie tot erscheinen, derweil ein Brief ihren Mann aus Mantua zum Grabe locken. Wäre da nicht das Schicksal. Der Brief erreicht Romeo nicht, der seine junge Frau für verstorben hält. Er erwirbt eine Ampulle Gift, tötet durch ein Missverständnis noch Paris am Grabe Juliets, und seine beiden Opfer um Vergebung bittend, begeht er neben seiner Liebsten Selbstmord. Diese erwacht und folgt dem Beispiel Romeos, indem sie sich mit seinem Dolch ersticht. Die Tragödie fordert ein weiteres und letztes Opfer, als Graf Montague am Grab erscheint und vom Tod seiner Frau ob der Gram von Romeos Verbannung berichtet. Die Wahrheit der jungen Ehe kommt ans Licht, die verfeindeten Grafen versöhnen sich. „For never was a story of more woe / Than this of Juliet and her Romeo”, schließt Prinz Escales (5. Aufzug, 3. Szene).

Im Gegensatz zu Brooke, dessen Werk laut Suerbaum „ein langes und langatmiges Versepos“ ist, komprimiert Shakespeare die tragische Liebe der Jugendlichen von neun Monate auf vier Tage, indem er alle wichtigen Plot-Elemente in eine Folge von Szenen packt. Wo Brooke Partei für die Seite der Eltern ergriff, lässt Shakespeare das Publikum sich mit den Verliebten identifizieren. Shakespeare gelang ein bemerkenswertes Stück, welches mit den Ehe-Vorstellungen seiner Zeit brach und die Liebe pries. Des Weiteren etablierte Shakespeare mit Juliet eine überaus starke Frauenfigur, deren Sachlichkeit Romeos romantischen Träumereien gegenübersteht. Sie ist es, die die Vermählung ins Spiel bringt („If that thy bent of love be honourable / Thy purpose marriage”, 2. Aufzug, 2. Szene). Im Vergleich zu Romeo erscheint Juliet als die reifere Figur, was angesichts ihres Geschlechts und ihres Alters ein durchaus hervorstechendes Merkmal ist. Somit ist Romeo and Juliet letztlich mehr ein Stück über Juliet, denn über ihren Romeo.

Was Shakespeares Stück neben seiner tragischen Liebesgeschichte und den starken Figuren auszeichnet, sind seine Verse. Umso erstaunlicher, da sie - wie angesprochen - aus einer Rohfassung stammen. Auch hier ist es Julia, der die stärksten Zeilen zufallen. Sei es bei der ersten Begegnung („For saints have hands that pilgrims’ hands do touch / And palm to palm is holy palmers’ kiss”, 1. Aufzug, 5. Szene) oder dem ersten Abschied (My only love sprung from my only hate! / Too early seen unknown, and known too late! / Prodigious birth of love it is to me / That I must love a loathed enemy”, ebd.) mit Romeo. Auch sonst wartet Shakespeare mit unsterblichen Sätzen wie „Do you bite your thumb at us, sir?“ (1. Aufzug, 1. Szene) oder dem Klassiker „It was the nightingale, and not the lark“ (3. Aufzug, 5. Szene) auf. Kein Wunder also, dass Romeo and Juliet seit jeher als Stück gilt, „mit dem ein Regisseur alles machen kann“, so Suerbaum. Von seinen rund drei Dutzend Filmadaptionen sollen zwei an dieser Stelle näher beleuchtet werden.


Romeo and Juliet (1968)

Where civil blood makes civil hands unclean.

Laurence Oliviers Stimme leitet mit dem Prolog Franco Zeffirellis Adaption von 1968 ein (und aus). Auf einem Markplatz begegnen sich Sampson, Gregory, Abraham und Balthasar und aus spielerischer Neckerei wird beim italienischen Regisseur schnell eine riesige Schlacht, in die sich der alte Montague mit gezücktem Schwerte stürzt. Ein probates Mittel, um früh die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu gewinnen. Dass Shakespeares Stück in der Tat dem freien Willen seines Regisseurs unterliegen kann, zeigt Zeffirelli dann in den folgenden zwei Stunden. Insbesondere was seinen Romeo angeht, ist der Italiener variabel. So gehen Romeo, Benvolio, Mercutio und Co. einfach zur Feier der Capulets, ohne dass dies Benvolio zuvor gegenüber seinem Cousin vorgeschlagen hat, um ihn von Rosaline abzulenken. Es verwundert dann auch nicht, dass Romeo sich hier - im Gegensatz zu Shakespeares Stück („I am not for this ambling“, 1. Aufzug, 4. Szene) - zum Mittanzen entschließt. Nicht die einzige problematische Szene mit dem Sohne Montagues.

In Zeffirellis Adaption ist Romeo (Leonard Whiting) unverkennbar die bereits bei den Literaten identifizierte passio. Wie ein Besessener knutscht Whiting seine Juliet (Olivia Hussey) während der Balkonszene ab, das Sexuelle der Beziehung steht für ihn stets im Vordergrund. Umso hervorstechender gerät Juliets ratio-Part, den die junge (und atemberaubende) Hussey über weite Strecken des Filmes beeindruckend und überzeugend zur Schau stellt. Ihre Besetzung als junge Schönheit ist vermutlich Zeffirellis größter Trumpf (umso ironischer, dass er sie ursprünglich nicht besetzen wollte, weil sie ihm zu dick war); vermag sie doch nicht nur die starke Persönlichkeit von Juliet mit ihrer unschuldigen Schönheit zu paaren, sondern zugleich Whitings weitestgehend unpassendes Spiel zumindest in den gemeinsamen Szenen auf ein gewisses Niveau zu heben. Auch in der übrigen Besetzung bewies Zeffirelli ein gemischtes Händchen. Ist Michael Yorks aggressiver Tybalt noch akzeptabel, so gerät John McEnerys Mercutio zur nervlichen Belastung.

Hinzu kommt, dass Zeffirelli die Auseinandersetzung zwischen Tybalt, Romeo und Mercutio als öffentliches Spektakel erneut auf dem Markplatz inszeniert. Was eine Vielzahl an Zuschauer zur Folge hat und folglich später Benvolios Zeugensaussage - die von Zeffirelli ohnehin stark beschnitten wird - bedeutungslos macht. Umso interessanter jedoch wird der Kampf zwischen Tybalt und Mercutio gezeigt, der erneut mehr spielerische Neckerei denn ernstes Duell sein will. Es ist ein Geben und ein Nehmen, ein Vorführen und Lächerlich Machen, das die beiden Großmäuler hier propagieren. Ernst wird erst daraus, als sich Romeo einmischt: „Why the devil came you between us?“. Ganz im Gegensatz zum anschließenden Gefecht mit Romeo, das durchaus von einem tödlichen Trieb beseelt ist und letztlich in Tybalts Tod endet, der mehr aus Romeos Selbstverteidigung resultiert, denn aus einem gezielten Angriff. Insofern passt Romeos Ausspruch „O, I am fortune’s fool!“ dementsprechend gut zur Interpretation der Szene.

Durch die ausufernde Darstellung der Kampfszenen hat Zeffirelli nun jedoch Zeit verloren, was Kürzungen an anderen Stellen nach sich zieht. Beispielsweise fehlen nahezu vollständig Juliets brillante Wortwindungen gegenüber ihrem Vater und designiertem Gatten, wie auch Romeo nach seiner Rückkehr aus dem Exil einfach das Gift des Apothekers (wobei hier nicht geklärt wird, woher er es eigentlich hat) sein eigen nennt - was ebenfalls die gelungenen Verse Shakespeares („I pay thy poverty, and not thy will“, 5. Aufzug, 1. Szene) obsolet macht. Bei all dem Fokus auf die Kämpfe überrascht es dann, dass das blutige Treffen Romeos und Paris’ am Grabe Juliets entfällt. Stattdessen folgt die finale Szene der Liebenden, die auch durch Husseys etwas überpointiertes Spiel einen „camp“-Stempel verdient. Viel bedauerlicher ist allerdings die fehlende „Moral der Geschichte“, insofern sich das Schicksal von Romeo und Juliet als solche überhaupt missbrauchen lässt. Ihr Tod führt für die Montagues und Capulets zu keinem „glooming peace“ und war somit letztlich vergebens.

Nun sind Bearbeitungen von Romeo and Juliet keine Seltenheit, wurde das Stück doch 200 Jahre lang fast ausschließlich in Bearbeitungen gespielt (die Mercutios Part reduzierten oder Juliet vor Romeos Tod erwachen ließen). Dennoch verliert Zeffirelli sich zu sehr in seinen exaltierten Markplatzszenen (seien es die Gefechte oder die Botschaftsübermittelung der Amme) sowie den Tanzeinlagen bei Capulets Feier - zu Lasten einiger gewitzter Verse Shakespeares. Dafür besticht seine Adaption durch ihre Ausstattung und Kostüme, die sich schön traditionell geben. Schauspielerisch ist Romeo and Juliet ein zweischneidiges Schwert, auf dessen Klinge lediglich Hussey mit sicheren Schritten zu tanzen versteht. Dass seine Ensemblewahl nicht immer die gelungenste ist, untermauerte Zeffirelli später erneut in seiner Verfilmung von Hamlet, in der Mel Gibson den depressiven Dänenprinzen gab. Somit kann am Ende konstatiert werden, dass Franco Zeffirellis Version optisch Akzente setzt, denen sie inhaltlich nicht entsprechend gerecht wird.

6/10


William Shakespeare’s Romeo + Juliet (1996)

Reason will not reach a solution.
(“Lovefool”, The Cardigans)

In die Filmgeschichte ging Baz Luhrmanns zweiter Spielfilm nach dem campigen aber durchweg gelungenen Strictly Ballroom als die MTV-Version des Stoffes ein, die quasi naturbedingt wie im Fall von Roger Ebert nicht jedem gefiel. Wie Suerbaum sagte, ist Romeo and Juliet ein Stück, „mit dem ein Regisseur alles machen kann“. In diesem Fall bedeutet dies: Jump Cuts, knallige Farben und ein poppiger Soundtrack (angeführt von „Lovefool“ der Cardigans). Das Setting ist Verona Beach, die verfeindeten Häuser werden zu Konkurrenzunternehmen, die sich auf offener Straße mit Knarren unter ihren Hawaiihemden begegnen. Der größte Verdienst Luhrmanns ist dann sicherlich, dass er der Sprache Shakespeares treu geblieben ist und somit im positiven Sinne eine moderne Version des Stoffes darbietet, dem dennoch weitestgehend treu geblieben wurde. Präsentiert wird das Ganze dann zu Beginn kongenial als Nachrichtensendung in einer mise-en-abyme, wenn die Moderatorin „now the two hours’ traffic of our stage“ ankündigt.

Grundsätzlich eint Romeo + Juliet viel mit seinem ´68er Kollegen, sei es die überbordende Exposition (bei der die Montagues gegenüber ihren Vertretern als Weichlinge karikiert werden), die Gesangseinlage bei der capulet’schen Feier, die zwei Gesichter Romeos, Juliets fehlende Wortspiele sowie das Streichen von Paris’ Tod und des Vergebens der Montagues und Capulets. Zusätzlich hat Luhrmann das Stück stark bearbeiten lassen - nicht immer zu dessen Vorteil. So verliebt sich Romeo (Leonardo DiCaprio) beispielsweise unter Drogeneinfluss in seine Juliet (Claire Danes), was der Schicksalhaftigkeit ihrer Liebe ein wenig den Wind aus den Segeln nimmt. Im Folgenden ist auch die erste Begegnung der beiden Jugendlichen nicht so romantisch eingefangen wie bei Zeffirelli, auch wenn die Aquariumsspiegelung zumindest von Seiten der Kameraführung ein Lob verdient. Auch die Verlagerung der Balkonszene in den Pool wirkt ob ihrer Tradition gar wie eine Sünde und etabliert relativ früh, dass es eigentlich Baz Luhrmann’s Romeo + Juliet heißen müsste.

Sehr viel problematischer ist jedoch die Entwicklung, die der Australier für seinen Romeo bereit hält. Nachdem ein wutentbrannter Tybalt (John Leguizamo) auf Romeo losgeht und diesen richtiggehend verdrischt, wird er nach Mercutios (Harold Perrineau) Tod - der auch hier mehr einem Versehen gleichkommt - vom Sohne Montagues weniger getötet als vielmehr exekutiert, zieht sich Tybalt doch vor Romeo zurück. Da passt es dann ganz gut, dass der aus Mantua eilende Romeo im Finale gar eine Geisel nimmt und auf die staatliche Gewalt in Person von Captain Prince (Vondie Curtis-Hall) schießt, als dieser mit seinem S.W.A.T.-Team die Kirche umzingelt. Dass Luhrmann dann einer der klassischen Bearbeitungen folgt, in der Juliet vor Romeos Tod erwacht und dieser somit ebenfalls Zeuge des jugendlichen Irrtums wird, kann da kaum noch negativ aufstoßen. Auch mit der fehlenden Reue ob der Tode Tybalts (und Paris’) wird der Figur ein essentieller Bestandteil ihrer Reife genommen, die bei ihrer Einführung noch vorhanden war.

Spielte Whiting seinen Romeo neben Husseys Juliet besser, tritt bei DiCaprio das Gegenteil auf. Es sind seine Momente fernab von Danes, in denen er sich auszeichnet. Sei es beim Schreiben seines Tagebuchs (eine sehr gelungene Integration) oder mit Benvolio in der Pool-Halle. Allgemein ist die Besetzung auch in Romeo + Juliet eine zwiespältige Angelegenheit. Besonders Paul Sorvino ist mit seinem Fulgencio Capulet vollkommen überfordert und scheint sich an seinem Part aus Goodfellas orientiert zu haben. Brian Dennehy (als Ted Montague) wäre die bessere Wahl gewesen - hätten beide ihre Rollen einfach getauscht. Auch Danes vermag mit ihrem teils hysterischen Spiel und Dauergrinsen nicht an die unschuldige Schönheit und charakterliche Reife von Hussey heranzureichen. Die Verschwendung von Figuren wie Benvolio (ebenfalls fehlbesetzt: Dash Mihok) ist da schon kaum der Rede wert. Akzente setzen können zumindest Pete Postlethwaite (als Friar Lawrence), Harold Perrineau und Diane Venora (als Gloria Capulet).

Als Gesamtwerk kann Baz Luhrmanns Adaption allerdings als gelungen erachtet werden. Selbst wenn die überbordende christliche Metaphorik stört, gefällt am meisten die pop-kulturelle Einbettung. Romeo + Juliet ist schrill und bunt, zudem überaus stark untermalt von Songs wie Stina Nordenstams „Little Star“, Radioheads „Talk Show Host“ oder „You and Me Song“ von The Wannadies bereithält. Dass es Luhrmann mit der Treue zur romeo’schen Figur nicht so ernst genommen hat, mag man daher verzeihen können, auch wenn der Film mit weniger Bearbeitungen vielleicht noch besser geworden wäre. Letztlich ist William Shakespeare’s Romeo + Juliet weniger eine Adaption für die MTV-Generation - das natürlich auch -, als vielmehr eine opulente und gutgelaunte zeitgenössische Interpretation. Und so sei es Shakespeares Stück gewünscht, dass es auch noch in weiteren 400 Jahren aufgeführt wird. Schließlich ist es ein Stück, „mit dem ein Regisseur alles machen kann“.

7/10

Verwendete Literatur:
Pulverness, Alan: Romeo and Juliet: Interpretationshilfe, Berlin 2007.
Suerbaum, Ulrich: Der Shakespeare-Führer, Stuttgart 2006.

8. Oktober 2010

She’s All That

Brock Hudson? What kind of a name is that?

Die High-School-Komödie ist ein inzwischen traditionelles Genre im hollywoodschen Gefilde. Doch High-School-Komödie ist nicht gleich High-School-Komödie und in den neunziger Jahren setzt zudem bereits eine Abgrenzung zu den Vertretern aus den 80ern ein, die durch die gegenwärtige Apatowisierung ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Ende der neunziger Jahre, 1999 um präzise zu sein, prügelten sich dann zwei Schulkomödien um den Thron, die im Grunde unter denselben Voraussetzungen gestartet waren und auf die sich die Kritik und Muster des Genres vis-à-vis anwenden ließ. Dass es American Pie (11 Millionen Dollar Kosten) letztlich gelang mehr als doppelt so viel einzuspielen als She’s All That (10 Millionen Dollar Kosten), dürfte wahrscheinlich daran liegen, dass Ersterer sich eher darauf beschränkte, Jungenhumor zu erzeugen. Denn die moderne Adaption von George Bernard Shaws Pygmalion tendierte dann doch eher in Richtung einer Katharsis der Figuren als Paul Weitz’ Sex-Klamotte.

Dabei bedienen sich wie gesagt beide Filme freizügig des Klischeepools. „All the students seem to be in their 20s“ merkte Roger Ebert hinsichtlich des Alters von Freddie Prinze Jr. (damals 23) und Rachel Leigh Cook (damals 20) an. James Berardinelli sah in der Story des hässlichen Entleins als potentielle Ballkönigin “the foundation for nearly every teen romantic comedy“, wohingegen Mick LaSalle feststellte, dass She’s All That “runs out of plot”. Godfrey Cheshire schloss sogar die sehr nette Analogie, dass Robert Iscoves Film “makes (…) 'Varsity Blues' look like 'Citizen Kane'“. Sicherlich keine unberechtigte Kritik, aber nun auch keine, die in irgendeinem Genrebeitrag der damaligen Zeit - insbesondere American Pie - eine Ausnahme gefunden hätte. Da die Schablone seit gut dreißig Jahren angewendet wird, ist es folglich, wie auch im Horrorfach, stets eine Frage der kreativen Umsetzung einer altbekannten Geschichte bzw. eines vorgegebenen Musters. Und für das, was die jeweiligen Filme darstellen wollen, muss man eingestehen, dass American Pie weitaus harmonischer funktioniert, als in diesem Fall She’s All That.

Der kanadische Regisseur Robert Iscove, jahrelang Fernsehregisseur, dessen Vita Ende der Achtziger mit Gastarbeiten für Miami Vice, Star Trek: TNG oder 21 Jump Street am eindrucksvollsten erscheint, steht letztlich zwischen den Stühlen eine moralische Komödie zu drehen oder sich auf ein Klischeefeuerwerk zu beschränken. Der Pygmalion-Ansatz ist in seinem Grundsatz nicht verfehlt. Nachdem Zack (Freddie Prinze Jr.), der populärste Junge der Schule, von seiner Freundin Taylor (Jodi Lyn O’Keefe), dem populärsten Mädchen der Schule, sitzen gelassen wurde, fühlt er sich natürlich in seinem Stolz gekränkt. Später im Film bringt es Zacks vermeintlicher Freund Dean (Paul Walker) einmal auf den Punkt, wenn er rekapituliert, welchen Status Zack während der letzten Jahre inne hatte („For four years I watched you fool people into thinking you’re some sort of god in this place“). Und so führt sich Zack - zumindest zu Beginn - auch auf. Egal ob er ein Mädchen mit falschem Namen anspricht oder Simon (Kieran Culkin) lediglich „Spasti“ ruft („He knows my name!“), die Reaktionen der Personen sind sympathischer Natur.

Seine Oberflächlichkeit kommt auch in seiner Reaktion auf Taylors Abservierung zum Ausdruck. „You strip away all that attitude and makeup...and basically all you have is a C-minus G.P.A. with a wonder bra”, urteilt er über die Frau, mit der er zuvor glücklich zusammen war und die ihn verlassen hat. Nun ist High School weniger eine Sache von emotionaler Verbundenheit als eher ein Sehen und Gesehen werden unter den bestmöglichen Voraussetzungen. Das pygmalion'sche Element greift nun, als Zack behauptet, an seiner Seite würde jedes Mädchen zur Ballkönigin. Hier sieht Dean seine Chance („This is one contest you’re gonna lose“), den Unfehlbaren versagen zu lassen. Die Wahl fällt auf die verschlossene und verschrobene Laney (Rachel Leigh Cook), die in ihrer Kunstklasse schon mal den Hinweis erhält, sich doch umzubringen, weil die meisten Maler erst nach ihrem Tod entsprechend gewürdigt wurden. Im Folgenden kommt es folglich wie es kommen muss: Zack verliert seine Oberflächlichkeit und beginnt sich in Laney zu verlieben - und vice versa.

In der Choreographie dieser Romanze verhebt sich Iscove ein ums andere Mal. Viele Ausflüge zu unwichtigen und total belanglosen Charakteren in den Personen von The Real World-Star Brock Hudson (Matthew Lillard), der Zack Taylor ausgespannt hat, oder speziell dem Campus-DJ (Usher) führen der Handlung weder Inhalt noch Humor zu. Dies wird nur noch dadurch überboten, dass einerseits eine zwar nett inszenierte, aber unerhebliche Tanzsequenz integriert wurde (um die Laufzeit aufzublähen) und andererseits durch eine krude Schamhaar-Pizza-Rache-Szene, die zum einen den romantischen Helden zum Beschützer des Nerds erklärt (Lucas lässt grüßen), dann jedoch aber auch in die humoristischen Gefilde eines American Pie vordringt, die der Film zuvor allerdings weitestgehend vermieden hat. Stattdessen widmet sich She’s All That zu wenig der Annäherung von Zack und Laney, die von Iscove meisten dann abgebrochen wird, wenn sie gerade erst beginnt, sich in eine interessante Richtung zu bewegen. Sei es die unglücklich verlaufene Party von Preston („Sometimes when you open up to people, you let the bad in with the good”) oder das sich öffnende Gespräch zwischen den beiden in Laneys Keller über ihre Verschlossenheit und seine Zukunftsängste.

Dabei weist der Film viele positive Eigenschaften auf: sei es die interaktive Rückblende zu Taylors Spring-Break-Erlebnissen oder Zacks Bühnenauftritt im Jesters. Wie viele High-School-Komödien finden sich nach einigen Jahren Abstand auch bekannte Gesichter wieder, wie in Nebenrollen: Milo Ventimiglia, Anna Paquin, Gabrielle Union oder Jodi Lyn O’Keefe. Von den drei größeren Rollen konnte sich lediglich - wenn man so will - Paul Walker durchsetzen, während sich ein gut aufgelegter Kevin Pollock auch für einen Nebenpart als schrulliger Vater nicht zu schade war. Was den Film ansonsten auszeichnet, ist sein stimmiger Soundtrack, der speziell durch „Kiss Me“ von Sixpence Non The Richer besticht, aber auch durch Goldies „Believe“ herausragt. Hätte sich She’s All That mehr an seinen emotionalen Momenten versucht, die ehrlichen Augenblicke zwischen Zack und Laney stärker fokussiert und andere Elemente wie Brocks Eskapaden weitestgehend beschnitten, hätte Iscoves High-School-Komödie sicher zu mehr getaugt. So ist der Film bisweilen recht nett, aber schlussendlich einfach nur durchschnittlich.

6/10

5. Oktober 2010

Herbstgold

Ohne den Sport wäre das Leben zu eintönig.

In einer Sporthalle steigt Herbert Liedtke auf einen Turnbock, klemmt die Füße unter den darauf angebrachten Holmen und lässt sich zurückfallen. Es sind Bilder, bei denen man Angst bekommt, ist Liedtke doch ein 93-jähriger Schwede und man befürchtet, er könnte sich mit seinem faltigen Körper auf der Stelle alle Knochen brechen. Kein Gedanke von ungefähr. „Wir wussten nicht, wer am Ende noch lebt“, gesteht Regisseur Jan Tenhaven als er das Konzept für seinen Dokumentarfilm Herbstgold erklärt. Über ein Jahr hat der deutsche Filmemacher acht rüstige Senioren-Sportler begleitet, von denen es fünf in seinen Film geschafft haben. Alle acht haben die Dreharbeiten überlebt, dennoch war für alle in dem über neunzig Minuten langen Film kein Platz. Es ist eine illustre kleine Gruppe, die Herbstgold präsentiert, und die einem später fast wie die eigenen Großeltern ans Herz gewachsen ist. Vom humorvollen Liedtke über die Deutsche Ilse Pleuger (85) bis hin zum Tschechen Jiři Soukup (82).

Komplettiert werden sie vom Österreicher Alfred Proksch (100) und der Italienerin Gabre Gabric (95). Beide traten 1936 zu den Olympischen Spielen in Berlin an. Gabric wurde damals Zehnte im Diskuswerfen, Proksch, in den 1930ern einer der erfolgreichsten Stabhochspringer Europas, belegte den sechsten Platz. Was alle eint ist ihre Liebe zum Sport und ihr sportlicher Ehrgeiz. Egal ob Liedtke, Gabric oder Proksch - sie alle präsentieren stolz ihre Medaillen, blicken nostalgisch auf ehemalige Wettkämpfe und Gegner zurück. „Auch ältere Menschen wollen sich vergleichen“, weiß Sportwissenschaftler Achim Conzelmann von der Universität Bern. Für die fünf Senioren ist der Sport zum Alltag geworden, der sie am Leben erhält. „Ich glaube, wenn ich jetzt Schluss mache, dann sterb’ ich in einem Monat“, sinniert Liedtke in Anbetracht des Todes seiner Frau Eva. Dann wandert sein Blick hinter die Kamera und ein Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht: „Aber ich will euch überleben“.

„Dieser positive Trotz hat mich fasziniert: Einfach weitermachen“, erklärt Tenhaven seine Motivation für jenen Film, auf dessen Thematik er per Zufall gestoßen war. Jene Lebenslust einer Gruppe von Menschen - Gabric erzählt in einer Szene, das jedes Jahr bis zu 5.000 Senioren an den Meisterschaften teilnehmen -, die nicht nur Tenhaven und Conzelmann, sondern auch den Zuschauer beeindrucken. Dabei ist Herbstgold nicht so sehr ein Sportfilm, auch wenn die vielen Trainingsszenen, speziell von Soukup, dies vielleicht implizieren mögen. „Es war mir wichtig, dass sie auch eine Geschichte abseits des Sportplatzes haben“, so der Regisseur. Sein Film ist somit weniger ein Film über fünf Sportler, als einer über fünf Menschen, die dem Tod trotzen und vor Lebenslust sprühen. So erzählt Jiřis Frau, dass sie keinen Mann haben wolle, der nur weil er Rentner ist, den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt. Auch wenn sie sich jedes Mal Sorgen macht, dass Jiři sich verletzen könnte, wenn er stets seine Höchstleistungen im Training abruft.

Und in der Tat sieht ihn die Kamera mehrfach straucheln, wie er seine Hochsprungübungen tätigt. Alfred Proksch, gelernter Grafiker und inzwischen passionierter Aktmaler, stürzt ebenfalls zwei Mal, mit dem dritten Sturz als Damokles-Schwert, müsste der 100-Jährige doch dann seine Wohnung aufgeben. Ein künstliches Kniegelenk später ist dieses Problem behoben und auch wenn er Gleichgewichtsstörungen hat, lässt es sich der Wiener später nicht nehmen, mit dem Rollator in die Arena zu rollen und außer jeder Konkurrenz (er ist der einzige Hundertjährige, der bei der Weltmeisterschaft im finnischen Lahti teilnimmt) zum Diskuswurf anzutreten. Die anderen haben es da schon leichter Auch wenn Pleuger bedauert, dass ihre ganzen alten Kontrahentinnen inzwischen verstorben sind („Der Kreis wird immer kleiner“) und Gabric in Ehrfurcht erstarrt vor ihrer Diskus-Konkurrentin Olga, einer russische Kanadierin, die aus dem Nichts auftauchte und angeblich Riesenweiten wirft.  

„Ich habe gerne mit dieser Leni-Riefenstahl-Optik gespielt“, gesteht Tenhaven bezüglich seiner Aufnahmen während der Weltmeisterschaft. Diese sind nah dran an den Sportlern, doch statt gestählten Muskeln gibt es hängende Hautlappen, magere Beinchen und graue Haare. In Zeitlupe dürfen hier Jiři springen und die anderen werfen, während Herbert alles gibt, um mit dem strammen Italiener neben sich im Sprint mitzuhalten. Wieder dieses Bangen, dass der über Neunzigjährige stolpern und sich alle Knochen brechen könnte. Am Ende wird er Zweiter - besser könne er nicht, keucht er. Und doch ist er ein Gewinner, wie auch die anderen von ihnen. Wie Gabre Gabric, die 95-Jährige, die 15 Jahre jünger aussieht als ihre fünf Jahre jüngere Konkurrentin Olga. Weit weniger beeindruckend als die sportliche Leistung dieser Truppe ist für Achim Conzelmann ihre geistige Fitness, ihre Selbstständigkeit im hohen Alter. Mit Herbstgold ist Jan Tenhaven ein außergewöhnlicher, ja, außerordentlicher Film gelungen.

9/10

3. Oktober 2010

The Social Network

Do you think I deserve your full attention?

Wer darunter leidet, keine Freunde zu haben, kann sich seit ein paar Jahren am Bildschirm trösten: Facebook verspricht Abhilfe. David Fincher hat diese moderne Variante des Selbstbetrugs zum Inhalt seines neuesten Films The Social Network gemacht. Zuletzt nahm sich schon South Park dieses Themas – man sollte eigentlich eher von einem Problem sprechen – in der Episode “You Have 0 Friends” an. Anstatt ihre Freizeit gemeinsam zu verbringen, hängen Cartman, Kenny und Kyle vor ihren Rechnern herum und facebooken mit ihren Freunden. Widerstrebend wird auch Stan in das soziale Netzwerk gezwängt – und sieht sich daraufhin mit Fragen seitens seiner Familie konfrontiert wie etwa: „Laut deinem Facebook-Profil sind wir keine Freunde.“

Freundschaft und Freizeit findet im 21. Jahrhundert verstärkt online statt. Facebook und Twitter lösen als Kommunikationsmittel das Telefonieren ab, wie in den 1990ern die E-Mail den Brief zu verdrängen begann. Dabei erfand Facebook nicht das Rad neu und ist per se auch nicht sonderlich kreativ. Dennoch verzeichnet es seit seinem Start am 4. Februar 2004 inzwischen über 500 Millionen Mitglieder – und ist aus dem sozialen Leben der Amerikaner nicht mehr wegzudenken. Man mag sich fragen, wie die Menschen ohne Facebook auskamen, wie Petrus vor fast 2.000 Jahren in Rom mit Jakobus und den anderen Jüngern Jesu in Kontakt blieb? Keine Möglichkeit, auszudrücken, ob es  „gefällt“, dass Petrus erster Papst ist.

Mehr schlecht als recht überlebte unsere Zivilisation also bis zum Jahr 2004. Nach dreieinhalb Jahren war Facebook bereits 15 Milliarden Dollar wert, sein Gründer Mark Zuckerberg ist inzwischen der jüngste Selfmade-Milliardär aller Zeiten. Letztes Jahr erschien das Buch “The Accidental Billionaires” von Ben Mezrich. Es beschreibt die Anfänge der Facebook-Gründer um Zuckerberg und seinen Harvard-Kommilitonen und besten Freund Eduardo Saverin. David Fincher nahm sich nun des Stoffes an, wollte ihn so schnell wie möglich verfilmen und zeitnah als The Social Network ins Kino bringen. Der Film erzählt die Geschichte von Mark Zuckerberg (dargestellt von Jesse Eisenberg) und wie er das wichtigste soziale Netzwerk der Gegenwart schuf.

Fincher beginnt mit jenem Abend des 28. Oktober 2003, als Marks  Freundin Erica (Rooney Mara) mit ihm Schluss macht, weil er sie von oben herab behandelt. Sie will seine Faszination für die Studentenverbindungen in Harvard nicht teilen. Dabei bestimmen doch diese, ob man es später zu etwas bringt. Mit zwei Bier intus und gekränktem Stolz wird mit seinen Mitbewohnern und Kumpel Eduardo (Andrew Garfield) “Facemash”, ein Hot-or-Not-Ranking der Kommilitoninnen, erstellt. Innerhalb weniger Stunden legen Zuckerberg & Co. das Campus-Netz lahm, erregen die Aufmerksamkeit der Uni und einer elitären Clique rund um die Zwillinge Cameron und Tyler Winklevoss (Armie Hammer) sowie Divya Narendra (Max Minghella).

Das Trio heuert Zuckerberg an, ein soziales Netzwerk zu programmieren. Er wird neugierig, beginnt zu tüfteln – und klaut ihnen schlussendlich einfach die Idee. So, wie er Facebook einige Jahre später seinem Mitarbeiter und ehemals besten Freund Eduardo klauen wird. Zwischen diesen beiden Handlungssträngen und den in Rückblenden erzählten, früheren Ereignissen, driftet Fincher hin und her. Man erfährt, dass Zuckerberg, dieser Nerd, der auch im Winter mit kurzer Hose und Badeschlappen über den Campus hampelt, wenn er schon kein narzisstisches Arschloch ist, sich zumindest wie eines aufführt. So lautet zumindest das Urteil seiner Anwältin (Rashida Jones); und man kann ihre Antipathie als Zuschauer nachvollziehen.

Zuckerberg wäre ja so gern Mitglied in einer der „wichtigen“ Verbindungen, andererseits sagt er oft, was er denkt, und stößt damit nicht nur Fremde, sondern sogar seine Freundin vor den Kopf. Das ist jedoch nicht die Person Mark Zuckerberg, und leider nicht einmal irgendeine Person. Drehbuchautor Aaron Sorkin, seines Zeichens Schöpfer der renommierten Fernseh-Polit-Dramas The West Wing, verliert sich dabei ein ums andere Mal in vielen geschwätzigen Dialogen, die in ihrer Spitzfindigkeit David Fincher vielleicht glauben lassen, dass sie in Verbindung mit seinem technischen Können aus The Social Network den Citizen Kane der John-Hughes-Filme gemacht haben. Wirkliche Figuren sollte der Zuschauer aber hier nicht wirklich erwarten.

Sie alle – von Mark über Eduardo bis hin zum Napster-Gründer Sean Parker (Ex-’N Sync-Sänger Justin Timberlake) – bleiben blass, frei von jedwedem Charakter. Man fragt sich vergeblich, warum Erica überhaupt mit Zuckerberg eine Beziehung eingegangen ist, was einen extrovertierten Menschen wie Eduardo zum besten Freund eines derart selbstverliebten Ekels machte oder was eigentlich nicht nur Harvard-Studenten, sondern überhaupt eine halbe Milliarde Menschen an so etwas wie Facebook finden. Das hat dann auch wenig mit Zeitgeist zu tun oder mit Momentaufnahmen unserer Generation. Facebook ist letztlich nur eine gefragte Modeerscheinung, bis ein anderer spinnerter Nerd in Badeschlappen das nächste Internet-Tool erfindet.

Warum sich Sorkin so ausführlich mit den Winklevoss-Zwillingen beschäftigt, ist auch unklar, verschwinden diese doch alsbald von der Bildfläche. Womöglich tauchen sie nur als Ideengeber für Facebook auf, das Zuckerberg die ersehnte Anerkennung bringen soll. Er ist in seiner Sehnsucht nach Anerkennung ein Geplagter, jemand, der es nicht sich, sondern den Anderen beweisen will. Eine faustische Figur, die letztlich ihrem Mephisto ins wenn schon nicht finanzielle, doch soziale Verderben folgt. Dabei ist der interessanteste Aspekt von The Social Network nicht Facebooks Erfindung, sondern die Freundschaft zweier Männer, die das überbordende Ego eines von ihnen zerstört. Etwas, worüber die Figuren aber nicht sinnieren.

So zeigt der Film einen Mann mit vielen Arschkriechern um sich, aber ohne Freunde. Einen Twen, der zwar im Geld schwimmt, aber ein sozialer Aussätziger bleibt. Wie immer es um die Psyche des realen Mark Zuckerberg bestellt sein mag, sein filmisches Pendant hätte durchaus mit etwas (mehr) Leben ausgestattet werden können. Ebenso der gesamte Film mit einer wirklichen Handlung. Denn so gut er auch von Fincher fotografiert ist – von technischer Seite lässt sich kein Vorwurf machen –, vermittelt er letztlich nicht mehr Informationen als einschlägige Wikipedia-Einträge und verliert sich stattdessen in Geschwätzigkeit und Belanglosigkeit. Oder, wie es Stan in South Park so treffend formuliert hat: “Dude, fuck Facebook, seriously.”

6.5/10