17. November 2010

Aruitemo aruitemo

Can’t you call your mom once in a while?

Eine Kleinfamilie sitzt in einer Straßenbahn. Sie, Yukari (Yui Natsukawa), trägt ein friedlich-freundliches Lächeln auf ihren Lippen. Er, Ryota (Hiroshi Abe), blickt mürrisch drein, als müsse er zum Zahnarzt. Die Reise führt aus der Großstadt zu einem Familientreffen. Die ersten Bilder von Kore-eda Hirokazus Film suggerieren fast, dass es hier gilt, Yukaris Familie zu besuchen. Doch Ryotas Abneigung richtet sich gegen die eigenen Erzeuger. Ob man nicht absagen könne? Eine Ausrede einfallen lassen? Wenigstens am selben Abend wieder heimfahren? Doch Yukari lehnt ab. Man wird über Nacht bleiben. Am Ende wird vermutlich auch sie diese Entscheidung bereuen.

Jährlich „zelebrieren“ die Yokoyamas den Heldentod von Junpei, Ryotas Bruder, der einst einem Kind am Strand das Leben rettete, aber dabei verstarb. Wie genau Junpei ums Leben kam, erzählt Kore-eda nicht und an sich ist es auch von sekundärer Natur. Im Vordergrund steht die Trauerfeier, bei der witzige Anekdoten erzählt werden, in denen die Eltern, Shohei und Toshiko, stets die Rollen zwischen Junpei und Ryota so vertauschen, dass der verstorbene Sohn besser wegkommt. Sehr zum missfallen Ryotas, der unter der Bürde leidet, es seinen Eltern nicht recht machen zu können. Als Kind wollte er Arzt werden, so wie sein Vater. Letztlich ist er es nicht geworden.

Auch dieser Grund ist von sekundärer Natur. Stattdessen ist Ryota arbeitslos, verschweigt dies jedoch und gibt sich dafür als Restaurateur aus. Was ihm auch nicht gerade den Respekt des Vaters einbringt, der durchklingen lässt, dass er anstelle von Junpei durchaus auf andere Menschen in seinem Leben hätte verzichten können. Insbesondere auf den Jungen, dem Junpei damals das Leben rettete, und der von Toshiko jährlich zur Trauerfeier eingeladen wird, damit sie ihn mit seinen Schuldgefühlen plagen kann. Übergewichtig hangelt er sich von Praktikum zu Praktikum und ist aufgrund der Trauerfeier so nervös, dass er sein Hemd und obendrein den Boden vollschwitzt.

Das Urteil ist – wie vermutlich jedes Jahr – gefällt: Dafür hätte Junpei wahrlich nicht sterben müssen. Lediglich Ryota bäumt sich auf, erkennt den Druck der Erwartungshaltung, weiß um die Enttäuschung in den Augen seiner Eltern. In Aruitemo aruitemo präsentiert Kore-eda eine Familie, die eigentlich kaum etwas vereint, außer den toten Sohn beziehungsweise den toten Bruder. Chinami (You), Ryotas Schwester, bietet an, mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu den Eltern zu ziehen. Schließlich wird Toshiko nicht jünger und Shohei ist am grauen Star erkrankt. Erwünscht ist das jedoch nicht, war Toshiko doch bereits der nachmittägliche Besuch zuviel des Guten.

Das Verhältnis zu Ryota und Yukari ist nicht viel besser, kritisieren es doch sowohl Toshiko als auch Shohei, dass der Sohn „beschädigte Ware“ gekauft hat– denn Yukari ist Witwe. Die guten Manieren werden dann, wie es sich fürs Genre gehört, am Esstisch fallen gelassen. Hier wird geäußert, was sich an Frust und emotionalem Ballast angesammelt hat. Dass es dabei nicht zu Dialogen, sondern aneinandergereihten Monologen kommt, passt ins Bild der Familie Yokoyama. So gefällig Kore-eda die gestörten Beziehungen der Yokoyamas skizziert, so gehaltlos ist sein Drama jedoch unterm Strich auch. Daher verwundert es nicht, dass der Film ohne vollendete Katharsis endet.

Oberflächlich betrachtet funktioniert Aruitemo aruitemo sehr gut, nur dass Kore-eda wenig über die Charaktere preisgibt, verbaut ihm ein gelungeneres Gesamtbild. Schließlich wäre es interessant gewesen, zu erfahren, warum Ryota nicht mehr Arzt werden wollte oder wieso sich Shohei so abfällig gegenüber seinem Sohn und auch seiner eigenen Frau benimmt. Zwar kann alles irgendwie auf Junpeis Tod abgewälzt werden, doch erfährt man über diesen dafür nicht genug, als dass es sich vollends nachvollziehen ließe. Dennoch ist Kore-eda ein überzeugendes Charakterdrama gelungen, in dem das Schauspielerensemble, speziell Kiki Kirin (Toshiko), heraussticht.

7.5/10

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