5. April 2010

Panel to Frame: Oldeuboi

Laugh, and the world laughs with you / Weep, and you weep alone.
(Ella Wheeler Wilcox, “Solitude”)


Comics und Mangas wirken wie zwei Kinder derselben Mutter. Etymologisch betrachtet bedeutet 漫画 auch nichts anderes als eben das, ein Comic. Während die westlichen Comics aus dem 19. Jahrhundert entstammen, ehe sie in Form des Zeitungscartoons Anfang des letzten Jahrhunderts langsam die Form annahmen, in der sie heute zu bewundern sind, rühren Mangas bereits aus dem 18. Jahrhundert. Eine Wende trat nun nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als westliche Comics ihren Weg jenseits des Pazifiks zu ihren Schwestern fanden. Sowohl die Comics als auch das Ereignis des Krieges - insbesondere Hiroshima - selbst, veränderten nun die Mangas. Was sich bereits dadurch beobachten lässt, dass viele Mangafiguren verstärkt kaukasische Züge tragen (siehe zum Beispiel Kōkaku Kidōtai). Dennoch stehen Mangas für sich, und zeichneten sich über Jahre durch Meisterwerke wie eben Masamune Shirows Kōkaku Kidōtai oder allen voran natürlich auch Katsuhiro Otomos Akira-Serie aus. Und in gewisser Weise auch Garon Tsuchiyas Ōrudo Bōi.

Von 1996 bis 1998 veröffentlichen Tsuchiya und sein Zeichner Nobuaki Minegishi die acht Bände umfassende Geschichte über Shinichi Gotō, der aus unerfindlichen Gründen ein Jahrzehnt lang in eine private Haftanstalt gesteckt wird. Wieder auf freiem Fuß, beginnt die eigentliche Geschichte von Ōrudo Bōi: Die Auflösung der Inhaftierung. Gotō wird zum Spielball seines Peinigers Takaaki Kakinuma, einem ehemaligen Mitschüler aus Grundschulzeiten. Dieser verfolgt Gotō mittels GPS-Implantat, Privatdetektiv, hypnotisierten Komparsen, per Mobiltelefon und schlussendlich auch in Person. Die wirkliche Auflösung findet dabei erst im achten und letzten Band statt, während die sieben Bände zuvor im Grunde lediglich Geplänkel sind. Der Grund der Inhaftierung stellt sich dann als reichlich profan heraus, wobei Tsuchiya wohl nach sieben Bänden auch mit seiner Offenbarung nur enttäuschen konnte. Dafür ist das Schlussbild umso gelungener umgesetzt worden. Somit ist Ōrudo Bōi ein durchaus spannendes, aber auch langatmiges Manga.

Für den südkoreanischen Regisseur Park Chan-wook sollte Tsuchiyas Werk Anfang des vergangenen Jahrzehnts die Inspirationsquelle für den zweiten Teil seiner Rache-Trilogie darstellen. Parks Oldeuboi wiederum adaptierte letztlich nur die Prämisse und grobe Figurenkonstellation von Tsuchiyas und Minegishis Meisterwerk. Etwa nach der Hälfte des zweiten Bandes beginnt Park seinen eigenen Weg einzuschlagen, was dafür sorgt, dass Oldeuboi zum einen durchaus eine Manga-Adaption darstellt, andererseits jedoch auch ein eigenständiges und originäres Werk ist. Seit seiner Veröffentlichung trägt Parks Film das Etikett „Kult“ mit sich herum, angefangen von Quentin Tarantinos überschwänglichem Lob während der Filmfestspiele von Cannes 2004, bis hin zur Aufnahme zu den zehn besten asiatisch-pazifischen Filmen aller Zeiten durch CNN vier Jahre später. In der Internet Movie Database ist Oldeuboi der beliebteste südkoreanische Film und lediglich Hayao Miyazaki und Akira Kurosawa schafften es mit ihren Werken vor Park.

Mit dem Wechsel nach Südkorea ändern sich auch die Namen der Charaktere. Gotō verkommt zu Oh Dae-su (Choi Min-sik), einem verheirateten Familienvater, der nach einem Zechgelage am Geburtstag seiner Tochter auf der Polizeiwache landet. Als sein bester Freund ihn abholt, verschwindet Oh Dae-su plötzlich im Seouler Regen. Eingesperrt auf der 7 ½. Etage eines Gebäudekomplexes, avanciert in den kommenden fünfzehn Jahren der Fernseher zu seinem einzigen Freund und Geliebten. Eines Tages dann findet sich Oh Dae-su plötzlich in Freiheit wieder. Was ihn nun vorantreibt, ist der Wunsch nach Rache. Doch seine Bestrafung hat scheinbar noch nicht aufgehört. Ein Obdachloser vertraut ihm ein Mobiltelefon an, seine erste Mahlzeit nach fünfzehn Jahren Mandu-Teigtaschen wird in wilder Verzweiflung lebendig heruntergeschlungen, ehe Oh Dae-su bewusstlos zusammenbricht. Er wacht in der Wohnung von Mi-do (Kang Hye-jeong) auf, die im Film die Kellnerin Eri ersetzt. Nichtsahnend, dass auch dies zum perfiden Spiel seiner Nemesis gehört.

Der Laufzeit fällt dann die Figur der Grundschullehrerin und späteren Schriftstellerin Yukio Kusama zum Opfer, gilt es doch relativ schnell die Brücke zu schlagen, von Lee Woo-jins (Yu Ji-tae) Enthüllung über die Entdeckung der einstigen Tat bis hin zur finalen Gegenüberstellung von Protagonist und Antagonist. Eine Reduzierung, die narrativ mal mehr und mal weniger glückt. Grundsätzlich vermeidet Park auf diese Weise Redundanzen in Oh Dae-sus Suche nach der Wahrheit, verrennt sich jedoch ebenfalls in die auch im Film nicht minder unglaubwürdige Verdrängung des Schuldigen an das Ereignis der Schulzeit. Eine Hinauszögerung der Auflösung, die weder bei Park noch zuvor bei Tsuchiya überzeugen kann. Immerhin ist die eigentliche Tat von Oh Dae-su etwas einleuchtender als Ursache, denn ihr Pendant im Manga. Wobei dafür Dae-sus Verschulden in seiner Folge wiederum den Bogen etwas überspannt. Das Finale von Oldeuboi ist somit eine zwiespältige Angelegenheit, die sich zwar klar bemüht, authentischer zu sein, andererseits jedoch nicht von allen Schwachstellen ihrer Exposition vollends lösen kann.

Obschon der Film nun narrativ stark reduziert daherkommt, gelingt es ihm nicht, dennoch Längen auszuweichen. Speziell die Aufdeckung der verlorenen Erinnerung inklusive Rückblende ist zu langatmig ausgefallen, wie auch der finale Showdown ab einem gewissen Zeitpunkt ausufert. Der Prämisse und Struktur von Ōrudo Bōi bleibt sich Oldeuboi somit treu, auch was die narrativen Schwächen angeht. Über die Besetzung der Figuren wiederum kann man sich nun streiten. Kang Hye-jeong stellt optisch und schauspielerisch sicherlich die gelungenste Lösung dar, während Choi Min-sik und Yu Ji-tae sehr eigenwillige Entscheidungen repräsentieren. Chois Interpretation von Oh Dae-su gleitet oft ins overacting ab, wenn er der Figur versucht wahnhafte Züge zu verleihen. Meist deutlich, wenn Choi ein teils debiles Grinsen aufsetzt, das an John Tenniels Cheshire Cat erinnert. Yu Ji-taes Gegenspieler wiederum ist außerordentlich jung geraten, sodass man beide Figuren nur mit viel gutem Willen in eine Generation einordnet.

Yu verleiht seinem Woo-jin vielleicht deshalb oft eine entsprechende Spitzbübigkeit, welche die Figur allerdings im Gegensatz zu Minegishis Kakinuma weitaus weniger bedrohlich erscheinen lässt. Ein Aspekt, der auch durch Woo-jins Hut nochmals verstärkt wird. Man kommt nicht umhin, Park hier eine gewisse Unernsthaftigkeit im Umgang mit den beiden Männern zu attestieren, stellt speziell Chois Darstellung des Öfteren eine humoristische Annäherungsweise an den Charakter dar. Das merkt man auch in Bezug auf den Namen der Titelfigur, erklärt Oldeuboi doch, dass Oh Dae-su bedeute, „sich gut mit anderen zu verstehen“. Später gesteht Oh Dae-su dann ein, dass er ganz im Gegenteil „nie gut mit anderen Menschen klargekommen“ sei. Die Versündigung seiner alltäglichen Jugendtat wird dann durch Park stark überspitzt. Oh Dae-su wird in eine Rolle gezwungen, die ihm nicht passen will, da er und sein Vergehen ihr nicht gerecht werden kann (”Even though I'm no more than a monster - don't I, too, have the right to live?“).

Auf visueller Ebene versucht sich Park in einigen Referenzen. So erinnert die Ameisenszene in Oh Dae-sus Zelle an Luis Buñuel und Salvador Dalis Un chien andalou, der Gefängnistrakt in der Etage 7 ½ an Spike Jonzes Being John Malkovich. Die Handlung selbst, jedoch bereits in Tsuchiyas Werk begründet, natürlich an Alexandre Dumas’ Le Comte de Monte-Cristo. Der finale Twist wiederum weckt Erinnerungen an Alan Parkers Angel Heart und Brian De Palmas Obsession. Die Filmreferenzen gehen dann im Soundtrack von Jo Yeong-wook direkt weiter, wenn die meisten Titel entweder nach Filmen (z.B. The Searchers, Out of Sight oder Frantic) oder musikalische Referenzen an Antonio Vivaldi benannt sind. Ohnehin stellt Oldeuboi gerade auf audiovisueller Ebene ein besonderes Kunstwerk dar, mit Dank an Jo Yeong-wooks brillante musikalische Komposition. Visuell gefallen die von Park ausgesuchten Tapeten, wie auch die Schlussszene im verschneiten Neuseeland.

Beeindruckend ist neben der audiovisuellen Umsetzung auch Parks Single-Shot-Szene im Privatgefängnis geworden, wenn Oh Dae-su in einer fortlaufenden 160-Sekunden-Einstellung gegen über ein Dutzend Männer in einem Flur kämpft. Es sind somit einige Aspekte, die dem Film tatsächlich den Stempel „Kult“ aufdrücken, selbst wenn Park sich nicht vollends von den Schwächen der Vorlage lösen kann. Für sich genommen mag Oldeuboi somit wohl etwas besser funktionieren, als unter der Berücksichtigung einer Adaption. Wobei Park wie bereits angesprochen zumindest in der Auflösung der alles auslösenden Jugendsünde etwas glaubwürdiger agiert. Letztlich ist dem Südkoreaner ein Film gelungen, der - speziell im Ausland - für sich selbst steht, da vielen die Manga-Vorlage nicht bekannt ist. Was jedoch nicht zwingend ein Nachteil für den Konsumenten sein muss. Somit ließe sich auf Oldeuboi wie Ōrudo Bōi Woo-jins philosophisches Zitat münzen: “Be it a rock or a grain of sand, in water they sink as the same”.

7.5/10

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